Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
Vom Netzwerk:
man beliebig mit Träumereien nährt und in der, wenn man allein ist, die in Wirklichkeit gar nicht Liebende einem im Gegenteil Liebeserklärungen macht, diese Erinnerung, der man immer mehr von dem beimischt, was man gern möchte, und die man schließlich so angenehm gestaltet, wie es einem beliebt, einer solchen Begegnung, das heißt jener immer wieder aufgeschobenen Auseinandersetzung vor, bei der man mit einem Wesen zu tun hat, dem man nicht mehr nach Gutdünken Worte diktieren kann, die man zu hören wünscht, sondern von dessen Seite man neue Kälte und unerwartete Ausfälle zu gewärtigen hat! «
    Aber obwohl er sich » würdevoll resigniert « gebärdet und in dieser Pose von ihr gesehen werden will, verkauft er eine von der hypochondrischen Tante geerbte Vase, um von dem Geld Gilberte ein Jahr lang täglich Blumen zu schicken. Zum Antiquar macht er einen Umweg und sieht prompt auf der Avenue des Champs-Elysées Gilberte neben einem jungen Mann einhergehen. Das dumme Ding war kurz davor, ein Jahr lang Blumen geschickt zu bekommen, aber so einem unvergleichlichen Privileg zieht sie Spaziergänge mit dem Leser unbekannten Herren vor!
    Unklares Inventar:
    – Eine Neigung zum » Saute-en-barque «, eine leise Andeutung eines » Suivez-moi-jeune-homme «.
    Verlorene Praxis:
    – Die Mutter der Freundin im eleganten Déshabillé vorfinden.
    – Als Dame stets eine Haltung pflegen, die » zwischen Schreiten und Ruhe zögert «.
    36. Di, 22.8., Alt-Lipchen
    Mein Vater will die Ruinen des Familiengrundstücks seiner Eltern fotografieren, das heute in Polen liegt, aber es muß gutes Wetter sein, deshalb wird die Fahrt immer wieder aufgeschoben. Ich glaube, er hat das Gelände auch schon fünfmal fotografiert. Ich soll am Auto warten, damit es nicht geklaut wird (was eher schmeichelhaft für dieses Auto wäre, aber es wird mit dem Fall eines Autos argumentiert, das mit darin sitzendem Großvater geklaut worden sei). Er will dann durch den Fluß waten und durch Müllhalden und Dornenhecken zur Westseite der Gartenhausruine vordringen. Dieses auf die eigenen Ruinen fixierte Interesse ist wohl mein Familienerbteil, und ich habe mich nur fortgepflanzt, um später jemanden zu haben, den ich zu meinen eigenen Ruinen schleifen kann. Wenn Almodovar wieder einen Film in La Mancha dreht, der Heimat seiner Mutter, wird das als Heimkehr zu den Wurzeln gefeiert, und niemand erwartet von ihm, sich von den rückständigen Verhältnissen in seinem Dorf zu distanzieren. Aber die DDR ist keine spanische Region, deshalb muß man sich in Deutschland dafür rechtfertigen, wenn man sich an sein Plattenbaugebiet erinnert, ohne die Mauertoten zu erwähnen. Als hätte man nur das Recht, eine Liebesgeschichte zu schreiben, wenn man im Vorwort der vielen namenlosen Opfer des Liebeskummers gedenkt.
    Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 235–259
    Die vorerst letzte Etappe der Gilberte-Episode, ich hoffe, er hat sich anschließend nicht mehr in allzu viele Frauen verliebt. Wenn er jedes Mädchen, bei dem er regelmäßig Tee getrunken hat, so ausführlich abhandelt (ohne viel über sie zu sagen), schafft er es mit dem Text nicht mehr bis zu seinem Tod. Marcel macht es, wie wenn man sich das Rauchen abgewöhnen will, er vermeidet Gedanken an Gilberte. Momente, in denen ihm das gelingt, stellen » Terraingewinn der Liebe gegenüber dar, die früher die ganze Seele für sich allein bewohnte «. Aber zumindest im Traum passiert es einem ja auch Jahre später noch, daß man an einer Zigarette zieht.
    Wie dumm, daß er auf seine Diplomatenlaufbahn verzichtet hat, um immer in ihrer Nähe zu sein: » Man richtet sein Leben ein für eine Person, die, wenn man sie endlich darin empfangen könnte, gar nicht erscheint und für uns schon gestorben ist; man selbst aber lebt als Gefangener in dem, was nur für sie bestimmt war. « Ich erinnere mich, »für eine Person«, mit der dann lange vorher Schluß war, auf einen Erasmus-Platz in Pisa verzichtet zu haben.
    Der Schluß dieses Bands gehört einer Apotheose Odettes. Ein Nachruf auf ihren Typ Frau. Umrahmt von Männern, » als blicke sie durch ein Fenster «, erscheint sie auf ihrer Flanierstrecke im Bois de Boulogne, aber immer etwas spät. Sie ruft dann » die Erinnerung an ihre Räume wach, in denen sie einen so langen Morgen verbracht hatte «. (Ich sehe mich noch auf ähnliche Art Seminarräume betreten.) Ihr Gehen erinnerte » in seiner müßig sich wiegenden Ruhe an die paar Schritte […], die man in

Weitere Kostenlose Bücher