Schmidt Liest Proust
mitspielenden Mädchen wählen. Eine narzißtische Kränkung, auch wenn die Mädchen weder fußballerisch noch intellektuell das Niveau haben, um den eigenen Rang beurteilen zu können. Warum erkennt man ihnen überhaupt den Status einer Person zu, von der man nicht verkannt werden möchte? Man erwartet ja auch nicht von jeder streunenden Katze, daß sie gerne mit einem lebt. Ähnlich ging es mir während einer Klassenfahrt, als wir nach einer kurzen Begegnung mit der Dorfjugend abends wieder im »Objekt« waren und plötzlich an der Tür zwei Mädchen aus dem Dorf auftauchten und einen Zettel durchreichten mit Angaben über diejenigen unter uns, mit denen sie sich gerne unterhalten würden. Vielleicht macht sich mein Gedächtnis einen Spaß daraus, mich zu quälen, aber ich meine mich zu erinnern, daß ich den Zettel anvertraut bekam. Sie wollten »den mit der gestreiften Hose« sehen, »den mit den schwarzen Haaren« und »den, der zu Hause ein Motorrad hat«. Ich mußte mit denen, die sich als Liebhaber schon vor der ersten Bewährungsprobe abgeschrieben hatten, mit der Lehrerin und den mitgereisten Müttern kniffeln. Seitdem denke ich, daß es ein Fehler ist, Frauen die Wahl zu lassen, sie suchen sich immer den mit den gestreiften Hosen aus. Man muß sie vor sich selbst schützen.
Ist es elitär, Proust zu lesen? Oder macht das gerade den Reiz aus? Aber dann könnte man auch irgendeinen anderen obskuren Autor lesen und sicher sein, noch weniger Gesellschaft zu haben. Bei Proust ist die Diskrepanz zwischen Prestige und Bekanntheit seiner Bücher besonders groß. Wie jeder Einstein kennt, aber niemand seine Theorie. So wird man, nachdem man Proust gelesen hat, ein Spezialist der menschlichen Seele sein und wie ein Astrophysiker Gespräche mit Laien über dieses Fachgebiet nur noch höflichkeitshalber führen. Das Problem ist, daß jeder Mensch eine Seele hat und sich als ihr Kenner fühlen darf. Aber das wirkliche Leben ihrer Seele ist den meisten doch so unbekannt wie die Zusammensetzung ihres Bluts.
Wie bei jedem Buch, das einem gefällt, lebt man ja in der Illusion, es sei nur für einen selbst geschrieben. Es würde den Genuß entwerten, wenn man wüßte, mit wem man ihn teilt. Marcel fühlt sich auch von den anderen Zuschauern gestört, als er zum ersten Mal die Berma sieht. Warum stellt man sich ein Treffen von Proust-Freunden quälend vor? Weil man dann natürlich gekränkt wäre, daß andere mehr wissen als man selbst, oder den Text als Projektionsfläche für ihr eigenes Leben mißbrauchen. Wirklich elitär wäre man, wenn man einen Autor wie Proust bezahlen würde, damit er einem solch ein Meisterwerk schreibt, das man dann alleine liest und mit ins Grab nimmt. Wobei, genaugenommen ist man ja selbst solch ein Autor.
Bis jetzt habe ich das Buch gelesen, als sei es gerade erst erschienen und mich, obwohl die Versuchung groß ist, gehütet, mehr über Proust zu erfahren. Nun habe ich doch einmal geguckt und bin sofort darauf gestoßen, daß hinter Albertine Prousts Chauffeur und späterer Sekretär und Geliebter stecken soll. Ich wünschte, ich könnte das wieder vergessen. Andere Informationen: Die Stadt Illiers wurde Proust zu Ehren 1971 in Illiers-Combray umbenannt, die Fiktion hat die Wirklichkeit besiegt. Wenn man das mit Berlin schaffen würde oder sogar mit Deutschland! Oder wenn die Menschen sich nach meinem Tod in Schmidtschen umbenennen würden! Man darf ja träumen. Wenigstens könnte eine Frau, an der ich mich schreibend abgearbeitet habe, sich nach meinem Tod aus Respekt an dem Charakter orientieren, den ich ihr im Text gegeben habe, auch wenn sie immer bestritten hatte, so zu sein.
1897 soll Proust sich mit einem Kritiker duelliert haben, hoffentlich hat er ihm seine empfindlichsten Stellen durchlöchert. André Gide hat den ersten Band der »Recherche« in seiner Eigenschaft als Gallimard-Lektor abgelehnt. Aber ein ungewöhnliches Publikationsschicksal gehört natürlich zu jedem großen Werk. 1921 erleidet Proust einen Schwächeanfall, als er in einer Ausstellung Vermeers »Ansicht von Delft« betrachtet, ein Jahr später stirbt er. Wäre es besser, nach Abschluß seines Werks noch vierzig Jahre seinen Ruhm zu genießen? Oder gehört der Tod nach dem letzten Satz zum Text, wie eine Art Gütesiegel? Zumindest in diesem Fall, wo es ja das Programm des Textes zu sein scheint, das Leben zu überbieten. Solche Gedanken an einem Abend, an dem man die Einsamkeit, die man morgens noch gepriesen
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