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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Wahrnehmung emporsteigt, die » ohne daß wir es wußten, einen größeren Reiz für uns hatte, den wir erst nach vierundzwanzig Stunden erkennen «.
    Nun sitzt in Rivebelle manchmal auch ein einsam wirkender, bärtiger, kräftiger Mann, der berühmte Maler Elstir. Und » noch etwas verspätet bei einem Lebensalter stehengeblieben, in dem die Begeisterung nicht ganz zu schweigen vermag «, senden Saint-Loup und Marcel ihm einen Brief an den Tisch, und Elstir lädt Marcel in ein Atelier ein. Was ist das für ein Mann? » Sicher hatte er in den ersten Zeiten gerade in seiner Einsamkeit mit Vergnügen daran gedacht, er werde durch das Medium seiner Werke aus der Entfernung denjenigen, die ihn verkannt oder beleidigt hatten, eine höhere Meinung von sich geben können. Vielleicht lebte er damals nicht aus Gleichgültigkeit so zurückgezogen, sondern aus Liebe zu den anderen, und wie ich auf Gilberte verzichtet hatte, um ihr eines Tages wieder von neuem unter liebenswerteren Farben zu erscheinen, bestimmte er sein Werk ganz gewissen Leuten, sah es als eine Rückkehr zu ihnen an, durch die sie ihn, ohne ihn wiederzusehen, dennoch lieben, ihn bewundern, mit ihm in Beziehung stehen würden. « Nie ist die heimliche Sehnsucht des Eremiten nach den Menschen so schön beschrieben worden.
    Obwohl ihn die Einladung zu Elstir freut, schiebt Marcel den Besuch auf, weil er täglich am Strand Dienst tun muß, um die Sechsergruppe sportlicher Mädchen nicht zu verpassen: » Diese Tage sind dann, wiewohl beschäftigungslos, beschwingt wie Arbeitstage. « Und noch ohne sich für eine entscheiden zu können, träumt er davon, der Freund einer von ihnen zu werden, er wäre » in eine verjüngende Gesellschaft eingedrungen, in der Gesundheit, Gedankenlosigkeit, Lust und Grausamkeit, Ungeist und Freude herrschten «.
    Zunächst muß er sie aber beobachten und ihre » scheinbar unregelmäßigen Sternenbahnen « studieren. Er muß fürchten, daß sie jederzeit abreisen könnten, wohin weiß er nicht, was sein Interesse nur anstachelt. Und wieder das eherne Gesetz der stets irgendwie selbstinduzierten Liebe: » Man kann Neigung für eine Person empfinden, aber um die Trauer auszulösen, jenes Gefühl des Unwiederbringlichen, jene Beängstigung, die der Liebe vorausgeht, braucht es […] die Gefahr der strikten Unmöglichkeit. «
    In seinem Verlangen, die sportlichen Mädchen wiederzusehen, geht Marcel allerdings sehr weit: » Dadurch, daß ich meinen Stuhl schräg stellte, versuchte ich ein größeres Stück Horizont zu überblicken. «
    Seine Großmutter leidet in seinen Augen an » einer gewissen Enge des Denkens «, weil sie nicht verstehen kann, warum er, anstatt einen großen Maler zu besuchen, sich plötzlich so außerordentlich für Golfspiel und Tennis interessiert. Aber das ist nur logisch, denn wir verlegen ja im Fall von Verliebtheit lediglich » einen Zustand unserer Seele « in die Frau hinein und infolgedessen ist » nicht der Wert der Frau, sondern das Niveau unsres Zustands einzig von Wichtigkeit «. Und es ist so, daß » die Seelenbewegungen, die uns ein an sich ganz unbedeutendes Mädchen verschafft, uns vielleicht erlauben können, tiefere Bezirke unseres Innern in unser Bewußtsein hinaufzuführen, persönlichere, entlegenere, wesentlichere Regionen, als das Vergnügen der Unterhaltung mit einem bedeutenden Mann oder selbst die bewundernde Betrachtung seiner Werke uns zu erschließen vermag «. Niemand soll darüber urteilen, auf welche Weise ich tiefere Bezirke meines Innern in mein Bewußtsein hinaufführe. Vielleicht lebt George Clooney deshalb mit einem Hängebauchschwein?
    Verlorene Praxis:
    – Nach Paris schreiben, um sich neue Hüte und neue Krawatten schicken zu lassen.
    48. Mo, 4.9., Berlin
    Wie Capote sich das Todesurteil für die beiden Mörder wünscht, über die er seinen Tatsachenroman schreibt, weil es der perfekte Schluß für sein Buch wäre, und das obwohl er sich inzwischen mit seinen Rechercheobjekten angefreundet hat, so muß der Autor eines Proust-Blogs sich ebenfalls etwas Grausames wünschen, kein Urteil gegen jemand anderen, sondern gegen sich selbst, nämlich sich unsterblich zu verlieben. So würde aus dem Kommentar des Gesunden ein Expeditionsbericht, die Theorie würde an der Praxis gemessen, so wie die großen Ärzte sich einen Cocktail aus Krankheitserregern injiziert haben, um die Reaktion ihres Immunsystems zu studieren.
    Im Rahmen eines Studiums der Literaturwissenschaften müßten die

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