Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
Vom Netzwerk:
Widerstand niedermachen lassen, reglos wie eine Biene, die vom Tabak betäubt den Instinkt verliert, ihren Stock zu schützen «.
    Unklares Inventar:
    – Gallégläser.
    Verlorene Praxis:
    – Unter der abergläubischen Überzeugung leiden, von der eigenen Treue hänge die der Mätresse ab.
    47. So, 3.9., Berlin
    Die kleine Verspätung bei der Lektüre hat sich ergeben, weil ich gestern an einem Fußballturnier teilgenommen habe, das den ganzen Tag dauerte, und nicht dazu gekommen bin, wie geplant in den Spielpausen Proust zu lesen. Es wäre ein heterotoper Ort für eine Proust-Lektüre gewesen, weil es sich bei den ungefähr sechzig Fan-Mannschaften meines alten Clubs dem Anschein nach um Türsteher, Boxer und, wenn nicht um Rechtsradikale, so doch zumindest Liebhaber altmodischer Schrifttypen handelte. Trotzdem wäre Proust nicht die schlechteste Wahl gewesen, weil bei der ganzen männlichen Verbrüderung und Hierarchiebildung und dem Zurschaustellen von tätowierten, muskulösen Körpern unbestreitbar eine gewisse Homoerotik mitschwang. Der Torwart eines unserer neben uns am Spielfeldrand campierenden Gruppengegner, der vom frühen Morgen an Jägermeister trank, die Nacht aber wohl auch schon durchgemacht hatte, weshalb er sich, nach unserer Vermutung, in der Sonne nur durch die Wirkung von Kokain auf den Beinen halten konnte, war ein gut gelaunter Mittvierziger, der wohl sonst im Schlachthof Rinder vierteilte, einem aber hier ab und zu unangekündigt mit seinen Pranken den Hintern tätschelte oder aus Spaß die Hose runterzog und für jede vorbeigehende Frau ein aufmunterndes Wort übrighatte: »Und was ist mit dir? Blasen? Mußt nur sagen.« Ein Kollege meinte, er wäre auch gern so unreflektiert wie dieser Hüne, der keine geistige Kontrollinstanz zu haben schien, sondern immer machte, was ihm einfiel und dabei sogar manchmal eine gewisse Originalität an den Tag legte. Wobei er auch normale Sätze knapp und in einer heiseren Lautstärke äußerte, wie man sie sich wohl auf Baustellen angewöhnen muß, um den Zementmischer zu übertönen. Wie kann man die Differenz einer Proust-Lektüre und eines Gesprächs mit solch einem Mann beschreiben, der ja nur ein sichtbares Extrem darstellt, während die meisten anderen im Wesen genauso sind? Die Camouflage, zu der man der Menschheit gegenüber permanent gezwungen ist, um nicht intellektuell, also arrogant beziehungsweise ermüdend-kompliziert zu wirken. Besser man würde aussehen wie Saint-Loup, der » unter dem Lächeln des Hofmanns das Verlangen des Kriegers nach einem handelnden Dasein verbarg […]. Sein Kopf erinnerte an Türme alter Ritterburgen, deren sinnlos gewordene Zinnen zwar äußerlich sichtbar bleiben, im Innern aber als Teile eines Bibliotheksraums fungieren «. So kommt man auch in der Gesellschaft von Schlachtern zurecht, wenn man seinen inneren Bibliotheksraum hinter Zinnen verbirgt.
    Eigentlich hatte sie mich für den Nachmittag zum Essen eingeladen, aber wegen des Turniers war es Abend geworden. Und ich hatte es auch dann noch nicht eilig gehabt hinzufahren. Verführerisch milde Nacht. Eine Pinnwand mit einer Werbeanzeige für ein Begräbnisinstitut, auf der sie von hinten nackt zu sehen ist. Wir hören eine CD, die ihr ein Verehrer gebrannt hat, der genau wie ich »Elbow« mag. Wieder ist es nicht so wie in dem DDR-Kinderbuch, wo der schüchterne Junge von dem Mädchen hinter einem Bibliotheksregal geküßt wird. Am Morgen gemeinsam aus dem Haus. Plötzlich will sie, daß ich schon vorfahre, damit eine Kollegin mich nicht sieht. Seitdem ist alles anders, aber nicht besser. Jetzt bin ich der, der wartet.
    Im Schatten junger Mädchenblüte, Seite 467–487
    Marcel kommt von den Abenden in Rivebelle spät nach Hause und schläft seinen Rausch aus. » [N]ach einigen vergeblichen und von mehrfachem Zurücksinken auf mein Kopfkissen unterbrochenen Bemühungen, mich aufzurichten «, gelingt es ihm, von seiner Taschenuhr die Zeit abzulesen (eine Übung, die wohl auch unser Torwartfreund im Moment gerade vollführt). Schließlich folgt ein langer, endlich auch erholsamer Schlaf, der aber in Wirklichkeit nur eine halbe Minute dauert.
    Zwar hatte Marcel in Rivebelle zahlreiche bemerkenswerte Frauen gesehen, aber nicht angebissen: » Noch einmal wieder war ich der Unfähigkeit einzuschlafen, dem Weltuntergang, dem Zusammenbruch, der Nervenkrise entronnen. « Aber Vorsicht, sicher kann man nie sein, es ist immer möglich, daß aus der Erinnerung eine

Weitere Kostenlose Bücher