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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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wenn einen auf der Straße junge Männer anstarren, sie wollen einem lediglich nicht zur Last fallen.
    Nur manchmal ist er weniger traurig, nämlich wenn die Madame einen schwermütigen Ausdruck hat, weil dieser » ihr etwas Unglückliches und Einsames gab, das mich beschwichtigte «. Wenn sie sich schon nicht mit ihm abgibt, dann soll sie wenigstens unglücklich sein, so denkt der Liebende.
    Sein Vater hat zwar inzwischen akzeptiert, daß Marcel die Laufbahn eines Schriftstellers einschlagen wird, aber er selbst hat noch nicht einmal damit begonnen zu schreiben. Nichts hilft, die Schreibhemmung zu überwinden: Schwung, Methode, Vergnügen, Verzicht auf Spaziergänge, Belohnung durch Spaziergänge, Momente des Wohlbefindens, Phasen der Krankheit, immer bleibt am Ende ein weißes Blatt Papier » wie bei gewissen Kartenkunststücken die eine Karte, die man immer zieht, wie sehr auch vorher das ganze Spiel durchgemischt worden ist «.
    Gefährlich ist es auch, sich einen anderen Rhythmus aufzwingen zu wollen, also früh schlafen zu gehen, Wasser statt Alkohol zu trinken und zu arbeiten, denn das nehmen einem die Gewohnheiten übel, » sie machten mich vollends krank, so daß ich genötigt war, die Alkoholdosis zu verdoppeln und zwei Tage lang überhaupt nicht zu Bett zu gehen; ich konnte dann sogar nicht mehr lesen und nahm mir vor, ein andermal vernünftiger, das heißt weniger vorsichtig zu sein, wie ein armes Opfer, das sich bestehlen läßt, aus Furcht, bei etwaigem Widerstand auch noch ermordet zu werden «.
    Mit Saint-Loup geht er dessen Freundin auf ihrem Dorf abholen, sie wollen zusammen ins Theater. Marcel bleibt einen Moment zurück und genießt die Baumblüte, dann erscheint Saint-Loup mit seiner sagenhaften Geliebten, » deren geheimnisvoll in einen Leib wie in ein Tabernakel eingeschlossene Persönlichkeit das Objekt war, das unaufhörlich die Phantasie meines Freundes beschäftigte, das zu kennen ihm ewig unmöglich schien «. Diese ist Marcel nun aber nicht ganz unbekannt, denn es ist Rahel, die Jüdin aus dem Bordell, das er zu früheren Zeiten gerne aufgesucht hat. Das Mädchen, das, wenn sie die Tür schloß, » sogleich anfing, ihre Sachen abzulegen, wie man es beim Arzt tut, der einen untersucht «. Also eine Frau, die ihm » höchstens wie ein mechanisches Spielzeug erschien «, während sie Saint-Loup schon so lange im Liebeswahn gefangen hält. Diese » völlige Diskrepanz unserer Eindrücke « lehrt ihn, daß etwas, was dem einen zwanzig Francs wert ist, dem anderen sein Vermögen, seinen Stand, seine Familie aufwiegt. Zumal Saint-Loup ihr gerade ein Kollier für 30 000 Francs bestellt hat. Sie sind eben auf verschiedenen Wegen zu ihr gelangt und würden sie » darum niemals von der gleichen Seite her sehen «.
    Vielleicht liegt ihrer unterschiedlichen Bewertung derselben Frau auch ein Zufall zugrunde. Während sie Marcel schon im ersten Moment für zwanzig Francs zugänglich gewesen war, hatte sie sich Saint-Loup, vielleicht aus einer Laune heraus, etwas schwieriger gegeben. » Hat sie es mit einem stark in Gefühlen lebenden Menschen zu tun, beginnt, selbst wenn sie es gar nicht merkt, besonders aber, wenn sie es merkt, nun ein furchtbares Spiel. « Denn der Mann erhöht den Einsatz, und sie kann versuchen, den Preis in die Höhe zu treiben. Womöglich stirbt er gar, ohne sie je geküßt zu haben und in dem Glauben, das höchste Glück im Leben sei ihm versagt geblieben.
    Unklares Inventar:
    – Lavillièrekrawatten.
    64 . Fr, 22.9., Berlin
    Es war noch warm, man konnte am Nachmittag auf dem Balkon sitzen und die Kondensstreifen am Himmel beobachten. Gleichzeitig vier Streifen war Rekord, aus großer Entfernung schienen sie auf denselben Punkt weit im Norden zuzulaufen, als hätten die Flugzeuge am Nordpol ihr Nest. Im Dachfirst des Nachbarhauses leben Wespen, die geschickt das kleine Loch zwischen Holz und Dachpappe ansteuern, abbremsen und hineinschlüpfen. Jede Wespe hat das irgendwann einmal lernen müssen, aber sie hat es sicher nicht als anstrengend empfunden. Es gibt auch keine besonders talentierte Wespe unter ihnen, jedenfalls würde ihr Talent ihr keine Vorteile bringen. Sie würde vielleicht nur etwas öfter fliegen können und dadurch etwas mehr arbeiten müssen. Abends brüllen sich die Obdachlosen auf dem Platz vor meinem Haus an, sie klingen sehr energisch und kennen nur eine Lautstärke. Vielleicht würden Besucher fremder Galaxien sie für unsere Anführer halten, weil sie so

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