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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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verdient. Aber sie hatte nunmal mich erwischt, genau als ich mein Fahrrad anschloß. Ich hätte vielleicht vorsichtiger sein sollen, aber da ich ganz oben wohne, begegne ich auf dem Weg zur Wohnung immer wieder Nachbarn, die sich mein Gesicht merken. Das ließe sich nur vermeiden, wenn ich im Parterre wohnen würde, dann könnte ich schnell rein- und raushuschen. Dann könnte ich mein Fahrrad immer im Flur abstellen und niemand würde ahnen, daß es von mir ist. Wenn jemand über die Fahrräder schimpfen würde, könnte ich mitschimpfen und würde mich dadurch sogar noch unverdächtiger machen. Ich wollte aber immer ganz oben wohnen, soll ich jetzt nach unten ziehen, nur weil ich mein Fahrrad im Hausflur abstellen will? Außerdem könnte ich es dann ja auch einfach in die Wohnung schieben und hätte gar nichts davon, daß ich im Parterre wohne.
    Die Welt der Guermantes, S. 377–397
    Über die Rückfahrt mit der schwerkranken Großmutter sagt Marcel: » Sie war noch nicht gestorben, und ich war schon allein. « Er schleppt sie zu Professor E…, den er zufällig beim Warten auf eine Droschke erkennt und der ihnen widerwillig eine Viertelstunde seiner kostbaren Zeit opfert, er will abends beim Handelsminister speisen, hat noch einen Patienten, sein Frack ist kaputt, » und der andere hat kein Knopfloch für die Orden «.
    Die Großmutter wartet auf einer Bank: » Doch damit ein lebendes Wesen sich aufrecht hält, selbst auf einer Bank oder in einem Wagen, bedarf es einer Kraftanstrengung, die wir gewöhnlich nicht stärker wahrnehmen als (weil er nach allen Richtungen wirkt) den atmosphärischen Druck. « Dabei erfordert » das unbewegliche Verharren in dem, was wir gemeinhin als die passive Haltung einer Sache ansehen, wenn man nur dabei einen normal erhobenen Kopf und ruhigen Blick bewahren will, vitale Energie und wird zum Gegenstand eines erschöpfenden Kampfes. « Das muß man sich klarmachen, bevor man die Menschen in der U-Bahn wegen ihrer mißmutigen Gesichter und ihrer Körperhaltung kritisiert. Schon dieses Aussehen und diese Haltung fordern ihnen alles ab.
    » Ihre Großmutter ist verloren «, sagt Professor E… Dann bekommt er im Nebenzimmer einen Wutanfall, weil das Knopfloch für seine Orden immer noch nicht fertig ist.
    Zu Hause warnt Marcel die Mutter vor, die ein verzweifeltes und resigniertes Gesicht macht: » Ich begriff, daß meine Mutter diesen Ausdruck seit Jahren für einen noch ungewissen Schicksalstag schon vollkommen fertig in sich trug. « Doktor Cottard verordnet Morphium und setzt es, wenn der Eiweißbefund es erfordert, wieder ab: » Dieser so unbedeutende, so gewöhnliche Mann hatte dann in kurzen Augenblicken des Überlegens, in denen er die Gefahren der einen und anderen Behandlung in sich gegeneinander abwog, die Größe eines Feldherrn, der, im übrigen Leben vulgär, durch seine Entscheidung Bewunderung erregt, wenn er im Moment der höchsten Gefahr für das Vaterland nach kurzem Überlegen, was militärisch das Richtige sei, den Befehl: ›Front nach Osten‹ gibt. «
    Die Großmutter hat Schmerzen und Lähmungserscheinungen. » Ihre Züge schienen sich wie bei den Modellsitzungen in einem Bildhaueratelier in einseitiger und ausschließlicher Bemühung einer Vorlage anzupassen, die uns unbekannt war. « Man ruft auf Empfehlung den Spezialisten X… hinzu (den vierten Arzt). Weil die Großmutter eine Untersuchung ablehnt, ist es der Familie peinlich, ihn umsonst bemüht zu haben. Deshalb lassen sich alle von ihm » mit seinem Arztbesteck, in dem die Erkältungen seiner sämtlichen Patienten ruhten wie Winde im Schlauch des Äolus « an der Nase untersuchen. » Er behauptete, daß alles, ob Migräne oder Koliken, Herzkrankheiten oder Diabetes, nichts als ein verkapptes Nasenleiden sei. « Am nächsten Tag hat die ganze Familie einen Katarrh.
    Bergotte kommt Marcel in dieser Zeit regelmäßig besuchen. » Er hatte immer gern eine Zeitlang hintereinander ein und dasselbe Haus aufgesucht, wo man an ihn keine Ansprüche stellte. Früher aber hatte er es getan, um dort pausenlos reden zu können, jetzt, um lange zu schweigen, ohne daß ihn jemand zum Sprechen aufforderte «, denn er baut langsam ab. » Er kam zu unserem Hause, wie er in ein Café gegangen wäre, damit niemand mit ihm sprach. « Während Bergotte schwächer wird, wohnt er noch zu Lebzeiten » dem Aufstieg seiner Werke zum Ruhme bei. Ein verstorbener Autor kann wenigstens ohne Ermüdung berühmt sein […]. Er [Bergotte]

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