Schmidt Liest Proust
kannte, wie eine Näherin, die nahe am Fenster sitzend, um bei der Arbeit besser zu sehen, von der sonst im Zimmer befindlichen Person keine Notiz nimmt «. Aber er hat es gar nicht nötig, sich zu erheben, um in Kontakt mit » einer festverankerten Eva « zu kommen, denn überraschenderweise tritt unangemeldet und ohne zu schellen Albertine ein, die für ihn bisher nach Balbec gehört hat: » Zweifellos findet jedesmal, wenn wir eine Person wiedersehen, zu der unsere – auch noch so belanglosen – Beziehungen sich geändert haben, eine Gegenüberstellung zweier Epochen statt. « Es reicht auch schon, einer Lehrerin in der S-Bahn zu begegnen, dem Psychiater in der Sauna oder die Kellnerin nach Dienstschluß in Zivil zur Kaufhalle radeln zu sehen.
Er liebt sie allerdings nicht mehr. Zum Glück ahnt sie nicht, was das für den Eindruck bedeutet, den sie auf ihn macht, diese » recht ärmliche Rose, vor der ich gern die Augen verschlossen hätte «. Es ist ja nicht das erste Mal, daß er an den Frauen, die sich ihm nähern, etwas zu bemäkeln hat. Mit dieser ärmlichen Rose wird er aber noch einiges erleben. Und er selbst bedauert im voraus, sich so auf sie eingeschossen zu haben: » Sicher ist es vernünftiger, sein Leben an Frauen als an Briefmarken, alte Schnupftabakdosen oder sogar Bilder und Statuen zu wenden. Nur sollte uns das Beispiel dieser anderen Sammlungen zum Wechsel veranlassen, zu dem Prinzip, nicht nur eine einzige Frau zu haben, sondern viele Frauen. « Lieber Frauen sammeln als Schnupftabakdosen? Man sollte zumindest einmal darüber nachgedacht haben. » Jedenfalls kann ich hier nur bedauern, daß ich nicht einsichtsvoll genug gewesen bin, mir einfach eine Frauensammlung zuzulegen, so wie man alte Lorgnetten zusammenträgt, von denen eine Vitrine nie zuviel enthält: immer wartet ein leerer Platz auf eine neue, noch erlesenere. «
Ob der Vergleich mit den Lorgnetten es besser trifft?
Daß er Albertine nicht mehr liebt und als recht ärmliche Rose empfindet und außerdem schon mit dem Fräulein von Stermaria verabredet ist, hindert ihn nicht daran, sie dringend küssen zu wollen (natürlich nur, weil gerade keine andere da ist). Aber » nichts verhindert so erfolgreich wie intensives Wünschen, daß die Sachen, die man sagt, auch nur im entferntesten denen gleichen, die man denkt «.
Worauf gründet sich überhaupt seine » optimistische Hypothese «, sie könnte sich anders als in Balbec von ihm küssen lassen wollen? Ganz einfach, er hat an ihr » Umwälzungen « festgestellt, was er aus ihrem Wortschatz schließt. Sie benutzt jetzt Wörter wie »exquisit«, »Auslese« und »Zeitspanne«. Reicht das für den Schluß, daß eine Frau einen küssen will? » Freilich hatte Albertine schon, als ich sie in Balbec traf, über jenen ansehnlichen Vorrat von Wendungen verfügt, der beweist, daß man aus einer wohlsituierten Familie stammt, einen Vorrat, den die Mutter von Jahr zu Jahr bei ihrer Tochter mehrt, so wie sie ihr, je erwachsener sie wird, bei wichtigen Gelegenheiten nach und nach ihren Schmuck überläßt. « Hatte man keine wohlsituierte Familie und vielleicht nicht mal eine gute Ausbildung, bleibt einem als Frau immer noch ein Weg, doch noch in Besitz von Wörtern zu gelangen: » Zweifellos kommt es vor, daß wenig kultivierte Frauen, die einen hochgebildeten Mann heiraten, solche Wendungen von ihm als Morgengabe erhalten. «
Als Albertine »meines Erachtens« sagt, zieht er sie zu sich aufs Bett. Und selbst ein Wort wie »Musmeh«, bei dem er sonst die gleiche Art von Zahnweh verspürt, » wie wenn man ein zu großes Stück Eis in den Mund genommen hat «, kann ihm bei ihr nichts anhaben. Nein, er geht aufs ganze und kleidet seine schmutzigen Begierden geschickt in ein harmloses Angebot: » Stellen Sie sich vor, ich bin überhaupt nicht kitzlig, Sie können mich eine Stunde lang kitzeln, ich spüre nichts davon!
– Aber nein!
– Wenn ich es Ihnen doch sage.
[…]
– Soll ich es einmal versuchen?
– Wenn Sie wollen? Aber es wäre dann bequemer, wenn Sie sich auch auf meinem Bett ausstreckten.
– Ist es so recht?
– Nein, Sie müssen sich richtig hinlegen.
– Ob ich nicht zu schwer bin? «
Der Nachteil am Reichsein ist, daß man nie allein ist, weil die Dienerschaft einen ständig belästigt. Ausgerechnet jetzt tritt Françoise mit der Lampe ein und macht eine zweideutige Bemerkung. Vielleicht hat sie auch durchs Schlüsselloch geguckt und den richtigen Moment abgepaßt. Sie
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