Schmidt Liest Proust
jemanden, an den er seine geistige Erbschaft weitergeben könne. Dafür müsse er ihn aber jeden Tag sehen. Charlus führt » abscheuliche und an Wahnsinn grenzende Reden «. Er ist für Dreyfus, aber aus dem spitzfindigen Grund, daß er ihn als Juden und nicht als Franzosen betrachtet, also könne er auch kein Vaterlandsverräter sein, man könne ihn höchstens wegen Übertretung der Regeln der Gastfreundschaft belangen.
Er rät Marcel, die Gesellschaft zu meiden: » Halten Sie sich Mätressen, wenn Ihre Familie nichts dagegen hat, das geht mich nichts an, ich möchte Sie sogar eher dazu ermutigen, Sie junger Tunichtgut, der Sie bald nötig haben werden, sich rasieren zu lassen, sagte er, indem er mein Kinn berührte. Doch die Wahl der männlichen Freunde ist viel schwerwiegender. «
Verlorene Praxis:
– Sich von einer Frau ruinieren lassen.
– Zu Fuß gehen, bis man eine Droschke findet, die den eigenen Wünschen entspricht.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– » Es gibt Leiden, von denen man die Menschen nicht heilen soll, weil sie der einzige Schutz gegen weit ernstere sind. «
72 . Sa, 30.9., Berlin
Komplimente haben mich immer irritiert: »Ich wußte ja, daß das deine eigentliche Stärke ist.« Soll das heißen, daß ich alles andere lieber lassen sollte? »Dein Stil erinnert mich an XY.« XY? Wie kann man den mit mir in einem Atemzug nennen? »Ich lese sonst nicht viel, aber mit deinen Sachen kann ich mich total identifizieren.« Das muß dann wohl ein Mißverständnis sein. »Ich wußte gar nicht, was in dir steckt.« Wenn du es bisher nicht erkannt hast, wie willst du dazu dann jetzt in der Lage sein?
Außerdem beschämen mich Komplimente, schließlich ist es ja nicht mein Verdienst, wenn ich etwas geschrieben habe, man müßte das Kompliment an meine Lebensumstände weiterreichen, an meine Familie, die ich mir nicht ausgesucht habe, an die Freundinnen, die mich verdorben haben, an meine Gene, an meinen Charakter, der schon mit der Geburt feststand, an alle Autoren, die ich gelesen habe, an das Wetter, das an dem Tag zu schlecht zum Spazierengehen war. Der Text war nur die logische Konsequenz aus allem, mich dafür zu loben, ist, als ob man einen erwachsenen Menschen dafür loben würde, ein zehnteiliges Kinderpuzzle richtig zusammengesetzt zu haben.
Man ist ja nie mit sich zufrieden, während Komplimente zu beweisen scheinen, wie unwichtig es für den Rest der Welt ist, daß man noch weiter an seiner Vervollkommnung arbeitet, es würde ja längst reichen. Aber jeder neue Fan ist nur jemand mehr, den man in Zukunft enttäuschen wird. So, wie wenn ich einer Frau einmal ein Geschenk mitgebracht habe, dann fällt ihr beim nächsten Mal schon auf, wenn ich keins dabei habe.
Trotzdem will man doch gelobt werden? Natürlich, ich will ja auch jeden Tag Ente kross essen, obwohl ich davon zunehme. Aber noch lieber wäre es mir, jemand würde sagen: »Hier ist mein Entwurf für deinen nächsten Text, er ergibt sich ganz folgerichtig aus der Entwicklung deiner Arbeit bis zu diesem Punkt. Ich hoffe, ich habe alles beachtet. Du kannst deinen Namen druntersetzen, der Text ist ja eigentlich von dir. Es würde mich freuen, wenn ich wieder einmal einen Text von dir schreiben dürfte.«
Die Welt der Guermantes, S. 354–377
Zu Hause findet er seine Großmutter leidend vor. Jetzt ist also einmal jemand anderes krank. Und Krankheit ist immer ein Affront, eine Beleidigung von Seiten des Körpers: » Einen beliebigen Straßenräuber, dem wir auf einer Landstraße begegnen, können wir vielleicht für etwas, was sein eigenes Interesse berührt, wenn nicht für unser Unglück, immerhin empfänglich stimmen. Aber Mitleid von unserem Körper zu verlangen ist, als wollten wir mit einem Tintenfisch ein Gespräch eröffnen, für den unsere Worte nicht mehr Sinn hätten als das Geräusch des Wassers und mit welchem zu stetem Zusammenleben verurteilt zu sein uns mit Grauen erfüllen würde. «
Die Ärzte, diese selbstgerechten Feldherrn des Wohlbefindens werden von Proust genüßlich vorgeführt. Zuerst Cottard, der traditionell Milchdiät und Bettruhe verschreibt: » Denn da die Medizin ein Kompendium aufeinanderfolgender und einander widersprechender Irrtümer der Ärzte ist, hat man, wenn man die vorzüglichsten unter ihnen an sein Krankenbett ruft, beste Aussicht, eine Wahrheit um Hilfe anzugehen, die wenige Jahre darauf als falsch erkannt sein wird. « Aber man läßt noch einen anderen Jagd machen » auf das
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