Schmidt Liest Proust
geheimnisvolle Wild […], das man in die Tiefen des eigenen Innern nicht verfolgen kann «, nämlich den früher schon einmal von Bergotte empfohlenen du Boulbon, einen gebildeten Nervenarzt. Dieser spricht zur Kranken ausschweifend über Bergottes Bücher und testet damit heimlich ihr Gedächtnis. Dann erklärt er, daß sie sich alles nur einbilde. Sie leide unter einer »Mentalalbuminurie«. » Auf die Attacke, die die Ärzte mit Medikamenten heilen (jedenfalls soll so etwas schon vorgekommen sein), erzeugen sie zehn neue bei ganz gesunden Leuten, indem sie ihnen jenen pathogenen Wirkstoff einimpfen, der tausendmal virulenter als alle Mikroben ist, die Idee der Krankheit. « Was die Arbeit des Arztes wesentlich erleichtert, er muß nun ja nur noch kommen, um zu verkünden, daß der Patient gar nicht krank sei. Um das bei Marcels Großmutter zu erkennen, muß er sie nur sehen, » ja sogar nur Ihre Frau Tochter und Ihren Herrn Enkel «.
Du Boulbon verordnet der Großmutter Spaziergänge. Dann plaudert er noch etwas aus dem Nähkästchen. Im Sanatorium stand ein Patient mit verdrehtem Hals auf einer Bank. Er wollte den Hals nicht von seiner Flanellunterwäsche entfernen, weil er sich beim Gehen erhitzt hatte und warten wollte, bis er sich abkühlte, um keinen steifen Hals zu bekommen. » Alles, was wir an Großem kennen, ist von Nervösen geschaffen […]. Die Neurose ist eine Meisterfälscherin. Es gibt keine Krankheit, die sie nicht zu kopieren versteht. « Es gibt nicht nur keine Künstler ohne Nervosität, sondern » keinen auch nur korrekten Behandler nervöser Erkrankungen, der nicht selbst eine solche durchgemacht hat «. Er selbst stehe nachts zwanzigmal auf, um nachzusehen, ob die Tür geschlossen sei. (Ob einen solch eine Aussage von Seiten des Arztes wirklich beruhigt? Aber ich erinnere mich, daß mir einmal ein Arzt gesagt hat, seine Kinder hätten auf die Geschenke unterm Weihnachtsbaum gekotzt: »Das geht gerade rum.« Und tatsächlich ging es mir danach besser.) Du Boulbon hat sich sogar in besagtem Sanatorium für Nervenkranke ein Zimmer reservieren lassen, » denn unter uns gesagt, möchte ich dort meinen Urlaub verbringen und meine Leiden behandeln, die ich dadurch zu sehr gesteigert habe, daß ich die der anderen zu heilen unternehme «. Die Großmutter könne ganz beruhigt sein: » Die Symptome, von denen Sie sprechen, weichen vor meinem Wort schon zurück. « Aber es tut ihm fast leid, sie zu heilen: » Selbst wenn ich wüßte, wie ich sie heilen könnte, würde ich mich wohl hüten es zu tun. Es genügt, daß ich dies Leiden unter meine Aufsicht bekomme. « Denn mit der Nervosität würde er ihr ja auch ihre Fähigkeit nehmen, zum Beispiel Bergottes Bücher zu genießen. » Soll ich mir nun das Recht zuerkennen, Ihnen anstatt der Freuden, die er Ihnen verschafft, gesunde Nerven zu schenken, die außerstande sein würden, sie Ihnen zu gewähren? «
Als der eigenartige Doktor fort ist, atmen alle auf, jetzt, da keine Gefahr mehr droht, kann man sogar seinen Schmerz ein wenig genießen. Marcel wird mit der Großmutter spazierengehen, sie solle sich nicht so haben. Und er inszeniert geschickt den Anlaß für lebenslange Schuldgefühle. Zunächst will er sich nicht verspäten, weil er anschließend noch zu Freunden will. Deshalb ärgert es ihn, wie lange die Großmutter für ihre Toilette braucht, » in jener seltsamen Gleichgültigkeit, die wir gegen unsere Angehörigen hegen, solange sie am Leben sind, und die bewirkt, daß wir an sie erst zuallerletzt denken «. Ungeduldig geht er schon die Treppe hinunter (Schuld). Auf den Champs-Elysées muß sie gleich auf die Toilette. Während Marcel lange auf die Großmutter wartet, erzählt die Klofrau von einem hohen Beamten, der jeden Tag zur selben Stunde kam, um Zeitung zu lesen und sein Geschäft zu machen. Als er einmal ausblieb, fragte sie ihn am nächsten Tag, ob ihm etwas passiert sei: » Da sagt er mir, nein, ihm sei selbst nichts passiert, nur seine Frau sei gestorben, und das habe ihn derart durcheinandergebracht, daß er nicht habe kommen können. Er sah wahrhaft traurig aus – Sie verstehen, Leute, die fünfundzwanzig Jahre verheiratet waren! –, aber doch auch richtig froh, daß er wieder hier war. Man spürte, daß er in seinen kleinen Gewohnheiten ungern gestört worden war. « Wie schön, wenn einen seine kleinen Gewohnheiten so ausfüllen, daß man seelischen Schmerz schneller verarbeitet.
Manche Kunden brächten ihr Blumen » in
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