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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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bewegte sich noch, aber freilich mit Mühe, während seine Werke, munter umherschwirrend wie geliebte Töchter, deren ungestüme Jugend und geräuschvolle Heiterkeit einen müde macht, täglich neue Bewunderer bis an sein Krankenbett führten «.
    Dabei wird er in Marcels Gunst gerade von einem anderen Autor abgelöst. Die Wissenschaft schreitet voran und so auch die Kunst, was gestern noch begeistert hat, wirkt heute aus denselben Gründen fade. Ein » originaler Künstler « muß » vorgehen wie etwa ein Augenarzt. Die Behandlung durch ihre Malerei, ihre Prosa ist nicht immer angenehm. Wenn sie beendet ist, sagt der, der sie ausgeführt hat, zu uns: Jetzt sehen sie einmal! Und nun kommt uns die Welt (die nicht einmal erschaffen wurde, sondern so oft, wie ein Künstler von persönlicher Eigenart aufgetreten ist) ganz anders vor als die frühere, jedoch überzeugend und klar «. So eine Anpassung der Wahrnehmung ist keine sanfte Angelegenheit, sondern eine Schocktherapie: » Das ist die neue, vergängliche Welt, die jetzt erschaffen wurde. Sie wird bis zur nächsten erdgeschichtlichen Katastrophe dauern, die durch einen neuen Maler und einen neuen Schriftsteller von originaler Prägung heraufgeführt werden wird. « (Schreibt jemand, der sich nicht ganz zu Unrecht Hoffnung auf diesen Titel gemacht haben dürfte.)
    Bergotte hält von dem neuen Mann übrigens nicht viel, er liest auch beinahe nichts mehr: » Schon war der größere Teil seines Denkens aus seinem Hirn in seine Bücher übergegangen. Er hatte durch sie an Substanz verloren, als seien sie aus ihm herausoperiert. « Am Ende liegt der Künstler im Sarg wie ein ausgezutschter Regenwurm.
    Unklares Inventar:
    – Urämie, Ciborium.
    74 . Mo, 2.10., Berlin
    Drei mögliche Romananfänge: »Schön ist es, wenn man sich auf dem Bahnhof zum Warten neben den Fahrplan stellt, weil immer wieder Menschen mit hilfesuchendem Blick auf einen zustreben, man ihnen dann aber gar nicht helfen muß.«
    »Oft bestellte er im Restaurant dasselbe wie seine Freunde, nur um sicherzugehen, daß sie nichts Besseres bekamen als er.«
    »Nach Jahren war ich wieder an der Universität um nachzusehen, ob sie inzwischen schon nach mir benannt worden war. Und ich stellte fest, daß mich dort inzwischen nicht mehr nur die Frauen, sondern auch schon die Sensoren der Wasserhähne ignorierten.«
    Die Welt der Guermantes, S. 397–416
    Das Sterben der Großmutter rückt auch wieder Françoises bemerkenswerten Charakter ins Bild. Als Bauernkind mit der elementaren Natur vertraut, benimmt sie sich durch ihren » klarblickenden Pessimismus « manchmal etwas grob. Einen schon vor der Krankheit bestellten Elektromonteur begleitet sie zur Tür, statt am Bett der Großmutter zu bleiben. Das gehört für sie zum korrekten Protokoll. In denselben Begriffen beurteilt sie auch die französische Außenpolitik. Als der Russisch-Japanische Krieg ausbricht, ist es ihr » dem Zaren gegenüber peinlich, daß wir nicht auch in den Krieg zogen, um ›den armen Russen zu helfen‹ «.
    Abwechselnd versagen der Großmutter Augen, Ohren und Zunge. Françoise frisiert sie noch einmal, » als gebe sie meiner Großmutter damit die Gesundheit zurück «. Aber diese kann den Kopf dabei kaum gerade halten. Dann will Françoise ihr auch noch einen Spiegel hinhalten, was Marcel entsetzt zu verhindern weiß. Auf Doktor Cottards Geheiß wird die Großmutter, um ihr Gehirn zu entlasten, mit Blutegeln behandelt: » Als ich ein paar Stunden später zu meiner Großmutter kam, wanden sich medusenhaft an ihrem Nacken, ihren Schläfen und Ohren kleine schwarze Schlangen in ihrem blutigen Haar. « Nur kurz tritt Besserung ein, und Françoise bestellt sich schon ein Trauerkleid bei der Schneiderin: » Im Leben der meisten Frauen wird alles, selbst der größte Schmerz, schließlich zur Kleiderfrage. «
    Nun wacht man nachts am Sterbebett, die Großmutter schon in Agonie, man hat » eine jener ›Extrahilfen‹, die man in solchen Ausnahmezeiten kommen läßt, um die Dienstboten zu entlasten, wodurch Sterbefälle einen gewissen Festcharakter erhalten «. Man bekommt einen Eindruck davon, wie dem Tod in der bürgerlichen Gesellschaft durch Rituale der Schrecken genommen werden soll. Der Gedanke, den Vorgang auszulagern, scheint hier niemandem zu kommen. Mehrere Nächte sitzen Vater, Großvater und ein Vetter am Bett der Großmutter, während diese aus dem Sauerstoffbehälter atmet: » Ihre fortgesetzte Aufopferung legte schließlich

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