Schmidt Liest Proust
eine Maske der Gleichgültigkeit an, und die unaufhörliche Untätigkeit neben dem Sterbebett veranlaßte sie dazu, die gewissen Gespräche zu führen, die von langen Eisenbahnfahrten nicht fortzudenken sind. « Eine Anspielung auf die Sterbeszene in »Madame Bovary«?
Doktor Dieulafoy wird gerufen (Arzt Nr. 5), durch sein korrektes Auftreten anscheinend ein Spezialist für Sterbefälle. » Die alte Herzogin von Mortemart, geborene Guermantes […] empfahl beinahe automatisch in ernsten Fällen mit einem Augenzwinkern ›unter allen Umständen Dieulafoy‹, als handle es sich um eine Eisbestellung. «
Der Doktor erscheint: » Mein Vater ging in den benachbarten Salon und begrüßte ihn wie etwa einen Schauspieler, der im Hause auftreten soll. « Der elegante, würdevolle Mann schaut sich die Großmutter an » und trat in denkbar bester Form wieder ab, indem er schlicht das Kuvert mit dem Honorar einsteckte, das man ihm übergab. Es sah dabei so aus, als habe er es überhaupt nicht bemerkt, und wir selbst fragten uns einen Augenblick, ob wir es ihm denn wohl gegeben hätten, mit einer so taschenspielerhaften Geschicklichkeit ließ er es verschwinden «. Die Kunst, sein Honorar unauffällig in Empfang zu nehmen, mußte natürlich in unserem Gesundheitssystem verkümmern.
Während die Atmung der Großmutter aussetzt, » durchlebte meine Mutter den gedankenlosen Jammer eines Blattes, das der Regen peitscht und das vom Wind hin- und hergezerrt wird «. Bis es vorbei ist. Die Großmutter bäumt sich ein letztes Mal auf, dann stirbt sie. Später hat sie wieder ein junges Gesicht, dem die Leiden und Kümmernisse eines langen Lebens nicht mehr anzusehen sind: » Das Leben ging und nahm die Enttäuschungen des Daseins gleichfalls mit sich fort. «
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– » Wenn Françoise einen großen Kummer hatte, verspürte sie, obwohl ihr diese einfache Kunst versagt war, den so überflüssigen Drang, ihn auszudrücken. «
75 . Di, 3.10., Berlin
Man muß auch einmal das Positive betonen, dachte ich, aber weil es mir nicht so leicht fiel wie gedacht, eine Liste von Dingen zusammenzustellen, über die ich im Moment glücklich sein könnte, bekam ich schlechte Laune:
– Das neue rote Küchenmesser.
– YouTube.
– Daß keiner über mir wohnt.
– Daß ich nur noch 73 Kilo wiege.
– Der Uhu-Sekundenkleber, mit dem ich meinen alten von meiner Tochter runtergeworfenen Kinderteller wieder reparieren konnte.
– Die von der früheren Filiale übernommenen Postbeamtinnen.
– Daß ich nicht mehr fernsehe (seit Januar).
– Flash-Speichersticks.
– Daß ich mein Abi schon in der Tasche habe.
– Daß ich die eine Zecke in diesem Sommer noch entdeckt habe, bevor sie zubeißen konnte.
– Daß ich nicht Verkäuferin geworden bin.
– Daß ich keinen Helicobacter habe.
– Kartoffeln.
– Acesal.
– Elektrische Zahnbürsten.
– Daß ich kein römischer Sklave bin.
– Comics von Drawn & Quarterly.
Die Welt der Guermantes, S. 416–437
Ein Sonntag im Herbst, nach der Aufregung um die Großmutter läßt der kühle Morgennebel Marcel wieder aufleben: » Der Nebel hatte sofort beim Erwachen aus mir, anstelle des zentrifugalen Wesens, das man an schönen Tagen ist, einen auf sich bezogenen, nach einem warmen Winkel am Feuer und einem Bett, das eine Frau mit mir teilte, lechzenden Menschen gemacht, einen fröstelnden Adam auf der Suche nach einer in dieser so veränderten Welt fest verankerten Eva. « Heute geht man an solchen Tagen ins Kino, aber ihm genügt es, auf dem Bett zu liegen und, während die neue Dampfheizung ab und zu eine Art Schluckauf von sich gibt, in seinem Kopf Erinnerungsbilder zu betrachten. Zudem hat er schon eine Verabredung mit dem bretonischen Fräulein von Stermaria aus Balbec sicher, auf Saint-Loups Vermittlung. Saint-Loup hat ihm geschrieben, er könne sie ruhig in ein Separée führen, denn sie sei » entzückend im Umgang «.
Saint-Loup hat sich übrigens endlich von Rahel getrennt und schickt ihr nur noch Geld. Ihre Bitten darum erzeugen » eine Windstille im Leiden des Eifersüchtigen «, denn sie bedeuten ja, daß sie noch keinen neuen Gönner hat. Man zahlt freudig, » bis man sich selbst ein wenig erholt hat und ohne Schwächeanwandlung den Namen des Nachfolgers zur Kenntnis nehmen kann «.
Wenn man auf jemanden wartet, zieht sich die Zeit in die Länge. Marcel stellt sich vor, wie er mit dem grauen Tag » allein zusammenbleiben würde, der mich so wenig
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