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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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daß Marcel kein Rasterektronenmikroskop anstelle seiner Augen gewachsen ist, sonst würde er seinen Blick bis in ihre Poren tauchen. Allerdings ist das Ergebnis der Annäherung auch mit menschlichem Auge wieder ein neuer Eintrag in der Liste der Ernüchterungen, denn » mit einem Male hörten meine Augen zu sehen auf, und meine fast dicht aufliegende Nase stellte keinen Duft mehr fest; und ohne darum besser den Geschmack der ersehnten Rose zu kosten, erfuhr ich durch diese hassenswerten Symptome, daß ich im Begriffe war, Albertines Wange zu küssen «.
    Ein anderes Phänomen, die Winzigkeit, die schon eine völlige Wandlung des menschlichen Gesichtsausdrucks bewirkt, in Balbec hatte sie ihn auf seine Kußattacke hin noch streng angesehen: » Zweifellos unterschied sich von jener Miene von damals der lustvolle Ausdruck, den heute ihr Gesicht bei der Annäherung meiner Lippen annahm, nur durch eine Abweichung unendlich kleiner Liniengefüge, in der jedoch die ganze Distanz zwischen der Gebärde eines Menschen liegen kann, der einem Verwundeten den Rest gibt, und der eines selbstlosen Helfers, zwischen einem erhabenen und einem widerwärtigen Porträt. «
    Was sie weiter treiben, bleibt etwas vage. Ihre Liebkosungen rufen bei ihm » jene Befriedigung « hervor, wie damals mit Gilberte auf den Champs-Elysées » hinter dem Lorbeerboskett « (Doktor du Boulbon hatte der Großmutter ja mit gelehrten Anspielungen empfohlen, zur Erholung genau zu diesem Lorbeergebüsch zu spazieren, » das ihr Enkel so liebt «, wo sich dieser aber in Wirklichkeit einmal auf Gilberte gestürzt und vorzeitig ejakuliert hatte. Auf dem Weg dorthin erleidet die Großmutter dann ihren Schlaganfall, womit schon dem eigentlichen Ziel dieses für Marcel so unrühmlich verlaufenen Ausflugs eine Erinnerung von Schuld anhaftete).
    » Es schien ihr peinlich zu sein, gleich nach dem, was sie getan hatte, wieder aufzustehen. « Aber was hat sie denn getan? Versteht sich das für den zeitgenössischen Leser Prousts von selbst? Gehen wir zu weit in unserer Phantasie oder im Gegenteil nicht weit genug, weil wir diese Epoche unterschätzen, so wie wir uns nicht vorstellen können, unsere Großeltern hätten jemals Sex gehabt?
    Daß sie sich siezen, bedeutet hier anscheinend nichts: » Wann sehe ich Sie wieder? setzte sie in der selbstverständlichen Annahme hinzu, daß das, was wir getan hatten, da es ja gemeinhin deren Krönung ist, doch wenigstens das Vorspiel einer großen Freundschaft sein müsse, einer bereits vorgeformten Freundschaft, zu deren Entdeckung und offenem Eingeständnis wir nunmehr verpflichtet seien, da sie allein erklären konnte, daß es zwischen uns so weit gekommen war. « Diese Freundschaft dürfte ein ungedeckter Scheck sein: » Als sie an der Tür stand, hielt sie nur, offenbar etwas verwundert, daß ich ihr nicht zuvorkam, ihre Wange hin, wohl in der Meinung, daß jetzt kein ausgesprochen physisches Verlangen nötig war, damit wir einander küßten. « Ein Irrtum.
    Marcel ist ein vielgefragter Jüngling, die Dinge kommen für ihn ins Rollen. War er nicht bis vor kurzem in die Herzogin von Guermantes verliebt? Ja, aber seine Mutter hatte ihn geheilt, indem sie ihm die Hände auf die Stirn gelegt und ihm ins Gewissen geredet hat, seine Morgenspaziergänge aufzugeben, auf denen er immer der Madame begegnen wollte. Das Handauflegen der Mutter hatte auf ihn die Wirkung eines Hypnotiseurs, er war augenblicklich von seiner Schwärmerei für Madame geheilt. Nun ist aber das beste Mittel, bei jemandem zu landen, nicht in ihn verliebt zu sein: » Feen, die mächtiger als die Menschen sind, haben es so bestimmt, daß in solchen Fällen nichts fruchtet bis zu dem Tag, da wir aus aufrichtigem Herzen uns sagen: ›Ich liebe nicht mehr.‹ «
    Bei Madame de Villeparisis verläßt die Herzogin auch prompt » ihre Sternenbahn «, läßt sich neben dem inzwischen ganz gleichgültigen Marcel auf einem Polsterstuhl nieder und streift ihn dabei fast » mit ihrem wundervollen nackten Arm «. Sie lädt ihn in ihren Salon ein, der für Neulinge eigentlich unzugänglich ist. Er kann an dem Abend aber gar nicht, und das ist der Schlüssel zum Erfolg: » Die Großen dieser Welt sind derart gewöhnt, umworben zu werden, daß, wer sie meidet, wie ein weißer Rabe ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht. «
    Unklares Inventar:
    – Bergère.
    Verlorene Praxis:
    – Als Gastgeberin kupplerisch Gelegenheit machen.
    77 . Do, 5.10., Berlin
    Ich war nach der Wende

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