Schmidt Liest Proust
enttäuscht, als ich erfuhr, daß es bei der Stasi keine Aufzeichnungen über mich gab, ich hätte gern darin gelesen, schließlich hatte ich selbst nie Tagebuch geführt. Meine Mutter hat mir nun die Kopie ihres »Übersichtsbogens zur operativen Personenkontrolle« gegeben, ich soll mich davon überzeugen, wieviel freier ich heute bin. Mir kommt diese Textsorte aber fast literarisch vor, und ich kann mich nicht richtig abgeschreckt fühlen. »Gründe für das Einleiten: Abklärung der Person. Ziel der operativen Personenkontrolle: Schaffung einer Übersicht zur Person«. Für jemanden, den Fachsprachen begeistern, ist das eine Form von Poesie, denn es leistet, was auch Poeten und Geisteswissenschaftler versuchen: eine Sprache zu erfinden für Dinge, die jeder kennt, aber nie benannt hat. Die Genauigkeit bewirkt dabei diese komische Ungelenkheit, als würde man sich mit dem Körper genau der Form eines Stuhls anpassen, weil einem das Wort dafür nicht einfällt. Amtsdeutsch ist sowieso schon immer halb poetisch, man muß es ja nur als Fundstück aus seinem Kontext lösen. »Schaffung einer Übersicht zur Person«, so könnte meine Autobiographie heißen.
Der Text liest sich dann lakonisch knapp und dabei doch leicht umständlich, wie die Prosa mancher Klassiker: »Die Sch. arbeitet überwiegend zu Hause. Sie schreibt zu Hause. Montags ist sie im Betrieb. Der Ehemann der Sch. welcher im gleichen Betrieb arbeitet, ist montags zu Haus und kümmert sich dann um die Kinder und Häuslichkeiten.« So fangen doch alle deutschen Nachkriegsromane an. Und ich muß sofort an die damalige Einteilung meines Lebens denken, in bedrückende Montage, an denen der Vater zu Hause war, und den fröhlichen Rest, an dem man die Mutter hatte. Bemerkenswert, was an Lebenswirklichkeit hinter solch einer sachlichen Beschreibung steckt. Und daß ich auf diese Art auch ein bißchen im Text vorkomme.
»Im allgemeinen Umgang ist die Sch. ein freundlicher und sehr hilfsbereiter Mensch. Ihr Wesen ist angenehm und berührt sehr. Für jeden hat sie ein gutes Wort.« Das ist doch eine sehr nette Beschreibung. »Die Kleidung wird für durchschnittlich gehalten befunden.« Darüber hat sie sich am meisten amüsiert.
»Am Weißenseer Weg war früher ein Stück Pachtland vorhanden gewesen. Dieses existiert nicht mehr.« Doch, als nebelhaftes Bild in meinem Kopf, ein Gartengrundstück, das irgendwann für ein Neubauviertel planiert worden ist. Der Weg dorthin führte immer über die Eisenbahnbrücke am hinteren Teil des S-Bahnhofs Frankfurter Allee, manchmal wurde man dort vom Dampf einer durchfahrenden Lok eingehüllt. Aber dieses existiert nicht mehr.
»Der Bruder der Sch. befindet sich in der BRD. Seine Pakete haben die Sch. nicht befriedigt.« Das kann eigentlich nicht sein. »Der Mutter der Sch. paßte der Geldumtausch nicht. Sie sagte, das, was sie eintauschen muß, könne sie auch den Kindern zugute kommen lassen.« Und das hat sie ja auch: Pfefferminzdrops, ein Schaumgummiball, »Biene Maja«-Aufkleber, Brausepulverbonbons, »Tim & Struppi«-Bücher … Ich lese im übrigen mit Befremden, daß meine Oma in diesem Jahr 111 würde und mein Opa 127.
»Innerhalb der Hausgemeinschaft gibt es eine Frau XXX, welche zeitweilig auf die Kinder der Sch. aufpaßt. Die Sch. und die XXX sitzen oft gemeinsam auf dem Balkon der Sch. und unterhalten sich.« Oma Krüger, die kein Klo hatte und deshalb den Nachttopf immer in die Regenrinne leerte, weil sie zu faul war, zu ihrem Schwiegersohn ins Parterre zu gehen. Leider wurden ihre schweinischen Witze nicht protokolliert. »Betreffs Republikfluchten konnte keine Klarheit geschaffen werden.« Nein, darüber war man sich ja selbst nie ganz klar.
Sogar an unseren Trabi wird erinnert: »Farbe weiß, Baujahr 1974«. »IX 62–27«, die Nummer, die ich heute noch im Schlaf aufsagen könnte, während ich mir meine Handynummer auch nach zwei Jahren nicht merken kann.
Und dann steht dort plötzlich mein Name, mit Geburtsdatum, es hat mich also wirklich gegeben!
Unterschrieben haben »Leiter des Referates 2 Major Marstalerz« und »Leutnant Okonek«. Zweimal polnisch: »Pferdeknecht« (?) und »Barsch«. Die Wirklichkeit läßt sich schwer übertreffen.
Die Welt der Guermantes, S. 457–478
Albertine muß erst einmal hinter Madame de Stermaria zurückstehen, deren Anhimmelung ja schon in Balbec beschlossen worden war. Mit ihr will er sich nicht irgendwo treffen, sondern auf der Insel im Bois de Boulogne. Andere
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