Schmidt Liest Proust
hat ja die hohe Kunst entwickelt, wie ein Spurenleser oder Detektiv aus den Gesprächsfetzen und wenigen Einzelheiten, die sie vom Leben ihrer Herrschaft mitbekommt, auf den Rest zu schließen. Und sie ist wie Künstler, die die Tyrannei eines Monarchen, einer Poetik oder einer Staatsreligion knebelt, geschickt darin, alles zu sagen, wo sie nichts sagen darf, es » in weniger sogar als einen Satz, in ein Schweigen, in eine bestimmte Art, einen Gegenstand hinzulegen « zu kleiden. Als sie fort ist, sagt Marcel zu Albertine: » Wissen Sie, ich habe vor allem Angst, wenn wir es so weitertreiben, daß ich Sie schließlich unbedingt küssen muß. « Wie aufmerksam von ihm, sie vorzuwarnen. Sie hat aber anscheinend gar nichts dagegen. Trotzdem tut er es nicht, denn für ihn ist » die Überzeugung, daß ein Kuß auf Albertines Wangen im Bereich des Möglichen lag, ein noch größeres Vergnügen, als sie wirklich zu küssen «. Da hat sie wohl aufs falsche Pferd gesetzt.
Unklares Inventar:
– Musmeh.
76 . Mi, 4.10., Berlin
Man muß sich auf seine Stärken besinnen, und meine ist nunmal zu klagen. Deshalb, als Ergänzung zu gestern, was mir unangenehm ist:
– Die Beine so übereinander schlagen, daß die Kniescheibe des stützenden Beins, sobald man den Oberschenkel anspannt, vom aufliegenden Bein blockiert wird.
– Wegen der durchscheinenden Sonne von der Zeitung nichts erkennen können.
– In der Wanne stehen, bevor das warme Wasser kommt.
– Weil auf dem kleinen Caféhaustisch der Platz nicht reicht, die Zeitung über den Teller mit Marmeladenresten halten müssen.
– Auf dem Flur einer kommunalen Einrichtung mit übergeschlagenen Beinen dasitzen und das aufliegende Bein dauernd zurückbiegen müssen, damit die Vorübergehenden nicht darüber stolpern.
– Noch mitten am Tag eine vom Honig klebrige Stelle am Finger entdecken.
– Eine Kaffeepfütze auf dem Untersetzer.
– Der Würgereiz, wenn man beim Ausziehen des Handschuhs in die Wolle beißt.
– Einen an der Tasse runtergleitenden Tropfen mit der Zunge auffangen wollen und dabei die heiße Kaffeetasse berühren.
– Mit unangespitzem Bleistift schreiben oder mit einem Bleistift, dessen Spitze einen Grat hat und das Papier zerkratzt.
– Eine notorisch aus dem Bezug rutschende Decke.
– Sauce, die auf Hosen tropft.
– Wenn der Löffelstiel, weil der Joghurtbecher so tief und der Löffel so kurz ist, beim Auskratzen an den Rand kommt und beschmiert wird.
– Nasse Ärmelenden nach dem Händewaschen.
– Im Imbiß beim Greifen der Serviette versagen und mehrmals nachfassen müssen.
– Beim Suppeessen aus der Nase laufende Suppe.
Ich solle nicht so nett sein, schreibt die Pankowerin mir, vielleicht sei sie es ja gar nicht wert.
Die Welt der Guermantes, S. 437–457
Nachdem er lange genug darüber meditiert hat, wie es wäre, Albertine zu küssen, sagt er: » Wenn ich Sie wirklich küssen darf, so möchte ich es lieber auf etwas später verschieben und selbst den Augenblick bestimmen. Sie dürfen dann nur nicht vergessen, daß Sie es mir erlaubt haben. Was ich brauche, ist also ein ›Gutschein für einen Kuß‹. «
Er denkt erst noch einmal über das Wesen des Küssens nach, für das dem Menschen ein eigenes Organ fehlt: » Dies fehlende Organ ersetzt er durch die Lippen und kommt dadurch vielleicht zu einem befriedigenderen Ergebnis, als wenn ihm zur Liebkosung der Angebeteten nichts anderes zur Verfügung stünde als ein Hauer aus Knochensubstanz. « Das wäre ein schönes Sachbuchprojekt: »Die Welt der Liebkosungen«, mit allen in der Tierwelt vorkommenden Sabber-, Rüttel- und Stupsvarianten und den dazugehörigen Spezialorganen. Beim Menschen in Ermangelung einer Kußvorrichtung eben die Lippen. » Die Lippen aber, die dafür gemacht sind, dem Gaumen den Geschmack verlockender Dinge zuzuführen, müssen sich, ohne ihren Irrtum zu begreifen und sich ihre Enttäuschung einzugestehen, damit begnügen, auf der Oberfläche umherzutappen und sich an der Verschlossenheit der undurchdringlichen, begehrten Wange zu stoßen. « – Ja, es ist ein elendes Umhertappen, es sei denn, man ißt die Frau einfach auf.
Zur Veralberung des Gaumens kommt noch die Verwirrung durch den Perspektivwechsel bei der Annäherung, denn er hat » auf dem kurzen Weg, den meine Lippen bis zu ihrer Wange zurücklegten, zehn Albertinen nacheinander « vor sich. Das Auge funktioniert wie eine Kamera, die neue Wirklichkeiten erzeugt. Die Frau kann noch froh sein,
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