Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
Vom Netzwerk:
Tannhäuser-Ouvertüre schweben. « Eine bemerkenswerte Haustür! Viel schöner als ein Melodie-Gong.
    In diese Stimmung platzt Françoise mit einem Brief der Vicomtesse Alix de Stermaria. Sie könne nicht mit ihm essen. Später werde sie ihm ausführlicher schreiben. » Ich stand regungslos, tief betroffen von diesem Schlage da. Karte und Umschlag waren mir vor die Füße gefallen wie die Hülse aus dem Gewehr, nachdem der Schuß losgegangen ist. « Was tut man bei so einem Brief (oder einer SMS)? Man studiert ihn noch hundertmal und versucht, sich ein Bild von den wahren Gedanken der Autorin zu machen. War es der Bois, der sie abgeschreckt hatte? Hätte sie ihm abgesagt, wenn er ihr keinen Kutscher geschickt hätte? Damit hatte sie doch nicht rechnen können? Die Nachricht setzt ihm zu, trotzdem » bereitete ich mich instinktiv noch immer für den Aufbruch vor, so wie ein Schüler, der im Examen bereits durchgefallen ist, noch eine weitere Frage beantworten möchte «.
    Nun hat er sie in seiner Phantasie schon hundertmal besessen und war ihrer dabei schon fast wieder überdrüssig geworden (ohne sie überhaupt je getroffen zu haben), und dann kommt sie nicht! Damit hat der Winter auch für ihn begonnen, die Eltern werden heimkehren und er wird in dieser Jahreszeit nicht mehr ausgehen. Statt Mädchen wird er auf den Champs-Elysées Spatzen sehen. Und das Schlimmste: Es ist anzunehmen, daß die Bretonin im Gegensatz zu ihm nicht ein einziges Mal an das Essen im Bois gedacht hat. Damit können » Enttäuschung und Zorn « diese Liebe » endgültig festigen «.
    » Wie viele solche Gesichter von Mädchen und jungen Frauen gibt es wohl in unserer Erinnerung, und wieviel mehr noch in der Zone der Vergessenheit, die alle voneinander verschieden sind und die wir mit Zauber und unserem leidenschaftlichen Verlangen, sie wieder vor uns zu sehen, nur deshalb bedacht haben, weil sie im letzten Nu unseren Blicken wieder entzogen wurden? « Man kann sich aber nicht helfen, man stellt sich diesen schrecklichen Moment trotzdem irgendwie heimelig vor. Er hat die große Wohnung der Eltern für sich, ist von beruflichen Sorgen offenbar immer noch befreit, nach der Dienerschaft, die im Hintergrund an seiner Behaglichkeit werkelt, braucht er nur zu schellen. Es ist Herbst, die beste Zeit, um sein » zentrifugales Wesen « auf sich selbst zu konzentrieren. Da liegt er auf einem » enormen Stapel von nicht aufgerollten Teppichen « und schluckt Staub und Tränen » wie die Juden, die sich zum Zeichen der Trauer Asche aufs Haupt streuten «. Und außerdem tritt ja genau in diesem Moment der wackere Saint-Loup ein, um ihn zum Essen abzuholen, er sei für einen Tag in Paris.
    » In Balbec war ich so weit gekommen, das Vergnügen, mit jungen Mädchen zu spielen, als weniger verderblich für das geistige Leben, mit dem es einfach gar nichts zu tun hat, zu erachten als die Freundschaft, deren ganzes Bestreben es ist, den einzigen wirklichen und (es sei denn durch das Mittel der Kunst) nicht mitteilbaren Teil unserer selbst einem oberflächlichen Ich zum Opfer zu bringen, das nicht wie das andere Freude in sich selber findet, sondern eine verschwommene Rührung dabei verspürt, wenn es von außen her gestützt und in eine fremde Individualität gleichsam gastlich aufgenommen wird, wo es dann, beglückt über den ihm zuteil gewordenen Schutz, sein Wohlbehagen in Billigung ausströmen läßt und Vorzüge bewundert, die es an sich selbst als Fehler bezeichnen und zu korrigieren bemüht sein würde. « Eine radikale, asketische Position, unerbittlich gegen » verschwommene Rührung «, nur dem Teil in sich selbst verpflichtet, der sich ausschließlich durch Kunst zum Ausdruck bringen läßt. Zudem ist die Herzlichkeit solcher Freunde wie bei » Diplomaten, Forschern, Fliegern oder Militärs « eine paradoxe Sache. Wie können sie so tun, als sei man ihnen wichtig, aber am nächsten Tag schon wieder ganz woanders sein? » Eine Mahlzeit mit uns, also etwas ganz Natürliches, schenkt diesen Reisenden das gleiche ungewöhnlich köstliche Vergnügen wie unsere Boulevards irgendeinem Asiaten. « Trotzdem, und obwohl Freunde ja so etwas Überflüssiges sind, ist es doch gut, statt Tränen und Staub zu schlucken, mit jemandem essen zu gehen, » der unser ganzes stagnierendes Sein mit seiner frischen Lebensenergie und seiner Zuneigung neu befruchtet «.
    Noch auf der Treppe denkt er, weil er Saint-Loup neben sich hat, an den Besuch in Doncières zurück, und

Weitere Kostenlose Bücher