Schmidts Einsicht
hinüberwanderte.
Er rechnete mit gut drei Stunden Fahrzeit im Montagmorgenverkehr nach Hudson. Schlimmes ahnend machte er sich schon vor neun Uhr auf den Weg. Er hatte gesagt, er werde gegen zwölf im Krankenhaus eintreffen; also sollte er auch pünktlich sein. Der befürchtete Anruf Renatas war, wie vermutet, am Sonntag abend gekommen. Er hatte dem Drang widerstanden, den Hörer aufzulegen.
Schmidtie, erklärte sie, daß du angeboten hast, nach Hudson zu fahren, ist sehr konstruktiv von dir.
Dann machte sie eine Pause, und Schmidt fragte sich, ob sie ihm erklären werde, er brauche sich nicht nach Hudson zu bemühen, sie oder Myron oder Jon würden dort sein oder – warum nicht? – die Großeltern oder Renatas schwuler Bruder. Schmidt erinnerte sich vage, daß der Mann Fotograf war. Wenn das stimmte, müßte seine Arbeitszeit flexibel sein, er konnte sich um seine Nichte kümmern. Aber nein, dies lag nicht in Dr. Rikers Absicht. Sie hatte vielleicht nur gewartet, daß er etwas sagte.
Ich hoffe, du wirst dich hüten, Charlottes Ansicht von deinen Handlungen und Intentionen anzuzweifeln. Es war vielleicht schmerzhaft für dich, ihrer Sicht der Dinge zuzuhören, und womöglich hat Charlotte in ihrer labilen Verfassung nicht in aller wünschenswerten Präzision formuliert, was sie erkannt hat. Aber du mußt der Wahrheit ins Gesicht sehen. Die Erkenntnisse sind wertvoll. Dein eigenes emotionales Gleichgewicht wird von dieser Art der Einsicht profitieren – das wäre wirklich eine ehrliche Selbstprüfung.
Warum war sie am Telefon, warum nicht hier bei Schmidtie im Zimmer? Sein emotionales Gleichgewicht! Nichts wäre förderlicher für sein emotionales Gleichgewicht, als Renata einen schweren Fausthieb ins Gesicht zu versetzen, ihr die Nase zu brechen oder ein paar dieser großen, weißen Raffzähne auszuschlagen. Jedes Äquivalent, das die Umstände zuließen, wäre ihm auch recht.
Sehr langsam, sehr deutlich, höchst präzise artikuliert, sagte er: Ich scheiße auf dich, Renata!
Anschließend legte er den Hörer auf, ganz vorsichtig, er warf ihn nicht auf die Gabel.
Er hatte nicht den mindesten Zweifel, daß Charlotte über diesen Schlagabtausch mit ihrer Schwiegermutter informiert war. Als er kam, sah sie ihn mit eisigem Blick an,gab eine einsilbige Antwort auf seine Frage, was sie gern zu Mittag essen wolle, und wandte sich wieder ihrem Buch zu. Er warf einen verstohlenen Blick auf den Umschlag: Stephen King, Schlaflos . Er zuckte die Achseln, aß seine Mahlzeit in ihrer schweigsamen Gesellschaft, räumte den Abfall weg und ließ sich von der Oberschwester über Charlottes Fortschritte informieren. Es geht ihr wunderbar, hörte er. Der Arzt werde während der Morgenvisite entscheiden, wann sie nach Hause könne. Vielleicht morgen, vielleicht auch erst Mittwoch. Um welche Zeit die Visite sei. Um acht Uhr, sagte man ihm. Wenn er um halb neun da sei, werde er den Arzt antreffen. Als nächstes ging er zur Verwaltung und fragte nach Nachtschwestern. Ja, solche Pflegerinnen könne man engagieren. Es reiche, wenn er am Morgen der Entlassung seiner Tochter eine anfordere.
All das war gut. Was er aber im Moment mit sich anfangen sollte, war eine andere Frage. Er ging wieder in Charlottes Zimmer und fand sie schlafend. Er hatte sich ein Buch mitgebracht: The Way We live Now . Es würde ihn garantiert fesseln.
Später am Nachmittag kam die Zeit für Charlotte, im Korridor auf und ab zu gehen. Die Schwester fragte Schmidt, ob er seine Tochter gern begleiten würde, aber bevor er antworten konnte, sagte Charlotte zu ihr: Ich gehe lieber mit Ihnen. Als sie wiederkamen, verließ er das Zimmer, solange die Schwester hinter der geschlossenen Tür mit Charlotte beschäftigt war, und kam zurück, als die Schwester gegangen war.
Ich weiß nicht, warum du hier bist, sagte sie.
Du hast gesagt, es sei dir lieb, du wolltest nicht allein sein.
Das war davor, unterbrach sie ihn.
Wovor? Bevor du mich beschimpft hast?
Richtig, erwiderte sie, bevor ich dir die Wahrheit gesagt habe, die du nicht hören wolltest.
Ich verstehe, sagte Schmidt.
Das sagte er nicht, weil sich ihm irgendeine Wahrheit gezeigt hätte, sondern weil er tief Luft holen wollte und Zeit dafür brauchte.
Wenn du mich lieber nicht um dich haben willst, werde ich dir, wenn du möchtest, eine private Tagesschwester besorgen, die bei dir bleiben kann, bis du nach Hause gehst. Ich kann wiederkommen und mich um deine Entlassung kümmern und dich nach Hause
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