Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmierfinken - Politiker ueber Journalisten

Schmierfinken - Politiker ueber Journalisten

Titel: Schmierfinken - Politiker ueber Journalisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maybrit Illner , Hajo Schumacher
Vom Netzwerk:
geht es um mehr: Hier will einer nicht nur überzeugen, sondern sich als Mensch durch seine eigenen Schwächen die rechte street credibility geben. Eminem perfektioniert diese Art der Selbstveräußerung nicht nur im Film, sondern auch in seiner Musikerkarriere. Lieder über Mordfantasien an seiner Ehefrau nach einem Streit oder über seine betrunkene Mutter haben ihn erst berühmt gemacht. So wird der Exhibitionismus zur Waffe.
     
    Jürgen Leinemann ist so etwas wie der Eminem des deutschen Polit-Journalismus: Er legt seine eigenen Schwächen auf der Bühne offen und entzieht damit seine Persönlichkeit, und das heißt hier vor allem seine Artikel, seine Filme, seine Thesen, im Vorhinein der Kritik, weil ihn diese Schwächen als den größten, authentischsten Zeugen seines Milieus ausweisen. Nur die Bezeichnung street credibility müsste man bei einem Politikbeobachter vielleicht eher durch »Flur credibility« ersetzen.
    Was an diesem Vergleich hinkt, ist die Tatsache, dass ich einen, der eigentlich Zuschauer sein sollte, quasi direkt auf die Bühne gestellt habe. Doch diese Operation steht letztendlich in der Konsequenz von Jürgen Leinemanns Schreiben. Denn seine »Flur credibility« lebt von der Erkenntnis, als Journalist irgendwie auch immer Teil
der großen Inszenierung der parlamentarischen Demokratie zu sein - davon, dass er nie verheimlicht hat, am eigenen Leib das Elend der Sucht nach dem Politikbetrieb erlitten zu haben. So wie er in den letzten Jahren auch seine schwere Krankheit, letztlich vielleicht auch eine Folge seines Lebenswandels, öffentlich gemacht hat. Deshalb hat es einen ganz und gar angenehmen Touch, wenn Leinemann nebenbei erzählt, dass er mit Gerhard Schröder hier und da gespeist und mit Joschka Fischer da und hier konferiert hat. Sein Eitelkeitsgeständnis rettet ihn also vor dem Vorwurf der Eitelkeit. Im Gegensatz beispielsweise zu einem Peter Scholl-Latour, der seine Begegnungen mit den großen der Welt wie Jagdtrophäen zelebriert, bekommt Leinemanns »Namedropping« automatisch einen nahezu therapeutischen Charakter.
     
    Jürgen Leinemann ist ein Urgestein der politischen Berichterstattung in Deutschland. Ich begegnete ihm persönlich zum ersten Mal kurz nachdem ich für Joschka Fischer in den Deutschen Bundestag nachrückte. Leinemann führte Interviews über die »Generationen in der Politik«. Wir fanden schnell persönlich wie politisch zueinander. Mehr noch beeindruckte mich aber seine starke, facettenreiche, letztlich auch durch Krisen gezeichnete Persönlichkeit. Jürgen Leinemann ist ein Journalist mit ebenso viel Glaubwürdigkeit wie Sendungsbewusstsein.
    Ja, er hat sich noch mehr mit Haut und Haaren der politischen Sache verschrieben als so mancher Politiker. Seit mehr als vier Jahrzehnten verfolgt er in Bonn, Washington und Berlin das politische Geschehen und vor allem dessen Akteure. In seinem Buch Höhenrausch , der faszinierenden Bilanz eines Großteils des bundesrepublikanischen Führungspersonals, geht er den Verknüpfungen von privaten
und politischen Ambitionen der Politiker nach. »Wie die beiden Leben zusammenpassen«, habe er sich erstmals gefragt, als er sich Gedanken über die Nazizeit machte, deren fürchterliche Kriegsfolgen er, Jahrgang 1937, als kleiner Junge erleiden musste.
     
    Dass die Väter, Mütter und Großeltern einfach so weiterleben und die Verbrechenspolitik der Nazis als zu einer anderen Sphäre zugehörig ausblenden konnten, erschreckte ihn. »In meinem eigenen Leben wollte ich diese Kluft nicht mehr zulassen!« Diesen Impetus teilt er mit der ersten Generation der Bonner Politiker. Er kann es nicht verhehlen, dass dieser Generation, zuvorderst den Sozialdemokraten Carlo Schmid und Willy Brandt, sein größter Respekt gilt. Ihr persönliches Erlebnis von Krieg und Diktatur habe ihnen eine Art inneren Kompass gegeben, der ihnen im Höhenrausch der politischen Karriere eine gewisse persönliche Integrität verlieh.
     
    Umso erstaunter war ich, als er mir eines Tages erzählte, er sei interessiert an den Unterschieden zwischen den Generationen in der Politik. Die 68er, ob die linken oder die rechten, seien doch noch aus einem durch den ideologischen Kampf gehärteten Holz geschnitzt, während die Generation der heute 30- bis 40-Jährigen weder Hunger noch Härte erleiden müsse; somit eigentlich alle Milchbubis seien - oder? Dieses »oder« ist bei Leinemann mehr als ein Stilmittel. Es ist seine persönliche Brücke zur Erhaltung der

Weitere Kostenlose Bücher