Schmuddelkinder - Lenz sechster Fall
hat?«
Wieder klapperte Herr Witsch mit der Tastatur. »Ja, das kann
ich bestätigen. Er hat im Karlshof in Wabern gearbeitet, als Erzieher.«
Lenz trippelte von einem Bein aufs andere, bevor er die
nächste Frage stellte. Sein Gesichtsausdruck ließ erahnen, dass er ein klein
wenig genervt war. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Witsch, aber was macht
eigentlich ein Erzieher in einem Jugendheim? Ich meine, so im Großen und Ganzen
ist das schon klar, aber können Sie mir vielleicht einen kleinen Abriss der
genauen Tätigkeit geben?«
»Oh je«, stöhnte der dicke Mann hinter dem Schreibtisch, »das
ist gar nicht so einfach, weil sich das im Lauf der Jahre doch sehr verändert
hat. Als Herr Bauer 1967 eingetreten ist, galten ganz andere Bedingungen als
heute. Zur damaligen Zeit war ja an die Diskussion über Erziehungsmethoden und
das ganze Drumherum, so wie es jetzt üblich ist, noch gar nicht zu denken.«
»Aber Sie wissen schon, was ein Erzieher damals zu tun
hatte?«, ließ sich der Hauptkommissar nicht beirren.
»Natürlich. Ein Erzieher musste für Disziplin sorgen, das war
halt in den 60ern so üblich. Ein bisschen später, Anfang der 70er und danach,
haben sich langsam andere, modernere Methoden durchgesetzt. Die Zöglinge waren
dann in Gruppen untergebracht, und in jeder Gruppe gab es einen Leiter und drei
oder vier Erzieher. Herr Bauer war …«, wieder hämmerten Herrn Witschs dicke
Finger über die Tasten, »zunächst als Erzieher tätig, 1971 hat er dann die
Leitung einer Gruppe übernommen.«
»Aber eine genauere Beschreibung seiner Tätigkeit können Sie
uns nicht geben?«, wollte Hain wissen, der eifrig mitschrieb.
»Wie jetzt, genauer?«
Lenz warf seinem Kollegen einen kurzen Blick zu. »Lassen Sie
mal, Herr Witsch. Sie haben uns schon sehr geholfen, vielen Dank dafür«,
erklärte der Hauptkommissar dem verdutzten Mitarbeiter des LWV. »Gibt es diese
Einrichtung eigentlich heute noch, diesen Karlshof?«
»Ja, selbstverständlich. Die Nutzung hat sich zwar
grundlegend geändert, aber die Einrichtung besteht noch.«
»Sie wird also nicht mehr als Jugendheim genutzt?«
Witsch schüttelte den Kopf. »Nein. Jugendheime in dem Sinne
gibt es ja heute eigentlich nicht mehr. Die Einrichtung heißt jetzt
Pädagogisch-Medizinisches Zentrum Wabern.«
»Dann danken wir Ihnen, Herr Witsch, für Ihre Bemühungen.
Wenn wir weitere Fragen haben, müssen wir Sie allerdings vielleicht noch einmal
behelligen.«
»Das macht nichts, ich bin ja immer hier«, erwiderte der
dicke Mann fröhlich.
»Hättest du dem noch länger zuhören können?«,
fragte Lenz völlig entnervt seinen Kollegen, als sie auf dem Rückweg waren.
»Schwerlich«, erwiderte Hain und zuckte mit den Schultern,
»aber brutal schlimm fand ich ihn jetzt auch nicht. Da haben wir es doch auf
Ämtern schon mit ganz anderen Kalibern zu tun gehabt.«
»Auch wieder wahr. Trotzdem hat er mich irgendwie schwer genervt.«
»Mich auch. In deinem speziellen Fall könnte es allerdings
auch mit deiner Tagesform zusammenhängen, was meinst du?«
»Niemals nicht«, erwiderte Lenz mit verkniffenem Gesicht.
»Wie auch immer«, gab Hain zu bedenken, »wir müssen
konstatieren, dass uns der Besuch bei Herrn Witsch in unserem Fall nicht
unbedingt weitergebracht hat.«
»Richtig. Jetzt hören wir, was der Tiefkühlmann uns zu sagen
hat, danach sehen wir weiter.«
6
Der Tiefkühlmann, wie Lenz ihn genannt hatte,
erschien eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit. Er trug einen
dunkelgrünen Overall mit einem Sticker auf der Brust, auf dem ein grinsendes
Kindergesicht und die Aufschrift Biocool zu sehen waren.
»Tobias Pritzle«, stellte er sich mit deutlich schwäbischem
Akzent vor.
Hain, Gecks und der auf seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch
sitzende Lenz nickten freundlich mit dem Kopf und boten dem Mann einen Stuhl
an.
»Guten Tag, Herr Pritzle«, erwiderte Lenz, »und herzlichen
Dank, dass Sie es eingerichtet haben, so schnell hier bei uns zu erscheinen.
Sie haben also etwas beobachtet, als Sie gestern Abend in Baunatal unterwegs
waren?«
»Ho ja. Ich bin ja immer an diesem Tag, meistens auch um die
gleiche Uhrzeit, in der Straße unterwegs. Viele ältere Leute wohnen da, das ist
gut für meinen Umsatz.« Er warf den Beamten einen prüfenden Blick zu. »Wenn Sie
verstehen, was ich meine?«
»Aber ja, klar verstehen wir. Also, was haben Sie gesehen,
als Sie gestern Abend in der Straße
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