Schmuddelkinder - Lenz sechster Fall
Nehmt ihn mit zur Überprüfung seiner Personalien, aber seid
vorsichtig, er ist drogenabhängig. Am besten warten wir auf den Krankenwagen,
dann kann der Arzt nach ihm sehen und entscheiden, wie er transportiert werden
soll.«
Die Uniformierten nickten
und stellten sich vor der Tür auf.
Melchers fing wieder an
zu weinen.
»Kennen Sie eine Ruth
Liebusch?«, wollte Lenz nun von ihm wissen.
Er überlegte kurz, bevor
er antwortete. »Ja, warum?«
»Woher kennen Sie sie?«
»Aus dem Karlshof in
Wabern. Sie hat dort gearbeitet. Aber das ist doch schon eine Ewigkeit her.
Warum fragen Sie mich nach ihr?«
Lenz und Hain hoben wie
elektrisiert die Köpfe.
»Haben Sie etwa auch dort
gearbeitet?«, wollte Hain ungläubig wissen.
»Quatsch«, widersprach
Melchers eine Spur zu heftig. »Ich war dort im Erziehungsheim.«
»Als … Zögling?«
»So nannten diese …« Er
suchte offenbar nach einem Wort, sprach es jedoch nicht aus, »das damals, ja.«
»Dann kennen Sie
wahrscheinlich auch den Erzieher Dieter Bauer?«
»Ja. Aber die Liebusch
und er waren alle auf einer anderen Gruppe. Ich glaube, bei den Picos. Ich war
zuerst im Pavillon drei und dann im Haupthaus, im zweiten Stock.«
»Haben Sie einen von den
beiden in der letzten Zeit mal gesehen?«, wollte Lenz wissen.
Wieder dachte Melchers
ein paar Sekunden nach. »Nein, ganz bestimmt nicht. Keinen von denen, seit ich
aus dem Karlshof raus bin.«
»Wann war das?«
Erneut ein Moment des
Nachdenkens. »1978.«
»Und danach sind Sie nach
Kassel gezogen?«
»Ja.«
»Und Sie haben immer hier
gelebt?«
Er nickte.
»Was arbeiten Sie, Herr
Melchers?«, fragte Lenz, obwohl er sich über die Antwort keine großen
Illusionen machte.
»Ich bin krank und kann
nicht arbeiten.«
»Dann beziehen Sie
Sozialhilfe?«
Wieder nickte der Mann.
Offensichtlich war ihm das Thema peinlich.
»Wissen Sie, ob Frau
Soffron Kontakt zu Frau Liebusch hatte?«
»Nein, davon hätte sie
mir erzählt. Außerdem waren die Liebusch und die Petra nie zusammen auf einer
Gruppe …« Er stockte. »Also ich meine, die Liebusch war nie Erzieherin auf der
Mädchengruppe gewesen.«
Erneut ging ein Ruck
durch die beiden Polizisten. »Frau Soffron war auch im Karlshof?«
»Ja, klar«, gab Melchers
erstaunt zurück. »Sage ich Ihnen doch. Auf der Mädchengruppe.«
»Und auch in der gleichen
Zeit wie Sie?«
»Ungefähr, ja.«
»Von wann bis wann genau
waren Sie dort?«
»Von 1974 bis 1978. Aber
warum wollen Sie das denn alles wissen? Ich will an die Zeit am liebsten
überhaupt nicht mehr denken.«
»Und Frau Soffron war
auch von 1974 bis 1978 dort untergebracht?«, ignorierte Lenz sein Anliegen.
»So genau …«
Das erneute Rasseln der
Klingel unterbrach Melchers Antwort. Kurze Zeit später betraten ein Arzt und
ein Rettungssanitäter die Wohnung und wurden von Hain eingewiesen. Nach einem
kurzen Blick ins Gesicht des noch immer leblosen jungen Mannes auf dem Bett
winkte der Arzt ab.
»Louis Bracht. Der Kerl
ist Stammgast bei uns.« Er griff sich das rechte Handgelenk des Bewusstlosen
und fühlte dessen Puls. »Vermutlich hat er sich in der Nacht oder heute Morgen
weggeschossen.«
In diesem Augenblick
öffnete Bracht zitternd die Augenlider und sah verdutzt in die Runde. »Was …?«
Weiter kam er nicht, weil
ihm die Augen wieder zufielen. Der Arzt schlug ihm zweimal leicht auf die
Backe. »Hallo, Herr Bracht, hören Sie mich?«
»Leider, ja«, antwortete
der Junkie müde und öffnete erneut die Augen. »Was soll denn der Auflauf? Seid
ihr alle wegen mir hier?«
»Auch leider, ja«,
bemerkte der Arzt süffisant.
»Wir
müssen ihn mitnehmen, weil ich glaube, dass was gegen ihn vorliegt, Herr
Doktor«, klärte Hain den Mediziner auf. »Die Frage ist nur, ob er zuerst in die
Klinik muss oder ob wir ihn gleich mit aufs Präsidium nehmen können.«
»Von mir aus können Sie
ihn mitnehmen«, antwortete der Arzt emotionslos. »Seien Sie vorsichtig, dass
Sie sich nichts holen. Mehr darf ich dazu aber nicht sagen. Vom medizinischen
Standpunkt aus spricht auf jeden Fall nichts dagegen, dass er zuerst aufs
Präsidium kommt. Sie werden allerdings nicht lange Freude haben an ihm, weil
spätestens heute Abend sein Turkey, also seine Entzugserscheinungen, einsetzen
werden.«
»Das werden wir
berücksichtigen. Danke auf jeden Fall, dass Sie vorbeigekommen sind.«
»Keine Ursache«, erklärte
der Mediziner und streifte sich die
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