Schmuddelkinder - Lenz sechster Fall
Wir haben grundsätzlich
doch eher mit den weniger humorvollen Menschen zu tun.« Der Oberkommissar stand
auf und suchte in seiner Hosentasche nach Kleingeld. »Soll ich dir was zu
trinken mitbringen?«
»Ein Wasser wäre gut.«
»Kriegst du.«
Während
sein Kollege unterwegs war zu den Quellen des Kasseler Jugendamtes, lehnte Lenz
sich in den bequemen Stuhl zurück, schloss die Augen, und dachte an Maria. Und
an die Zeit, die nun vor ihnen lag. Ihre Scheidung, die Öffentlichkeit, die
daraus resultieren würde, und die Veränderungen, die das alles mit sich bringen
würde. Und er musste daran denken, dass er ein paar Tage zuvor noch keinen
Gedanken daran verschwendet hätte, dass sie nun in seiner Wohnung auf ihn
warten könnte. Verrückt, fuhr es ihm durch den Kopf.
Und
während er an Maria dachte und danach kurz an Erich Zeislinger, ihren
Nochehemann, der vermutlich kotzend und fluchend in seiner Dienstvilla saß,
fielen ihm die Augen zu und er baute den Gedanken, den er gerade gedacht hatte,
in einen sofort beginnenden Traum ein, der jedoch abrupt endete.
»He, he, hier wird nicht
gepennt«, riss ihn Hain aus dem Sekundenschlaf und drückte ihm eine eiskalte
Getränkeflasche in die Hand.
»Ich hab doch nur mal
kurz die Augen zugemacht«, rechtfertigte Lenz sich gähnend.
»Von wegen. Du hast tief
und fest geschlafen.«
»Und wenn.«
»Halt wenigstens durch,
bis wir hier fertig sind, Paul. Dann bringe ich dich zu deinem kleinen
Zweisitzer und du kannst nach Hause fahren. Aber hier zu pennen, das geht gar
nicht.«
Das sah der
Hauptkommissar ein. Er drehte die Flasche auf, nahm einen großen Schluck und
rülpste laut.
»Prost«, sagte Hain
leise.
*
Es
dauerte eine Dreiviertelstunde, bis Hubert Vockeroth zurückkehrte. Er war schon
von Weitem an seinem fröhlichen Pfeifen zu hören. Die dicken Aktenpakete, die
er unter den Armen trug, lösten bei Lenz und Hain so etwas wie nicht mehr
vermutete Begeisterung aus.
»Sie ist tatsächlich in
den 70ern des vorigen Jahrhunderts eine unserer Kundinnen gewesen, meine
Herren«, begann der Mann im roten T-Shirt. »Und wenn ich die Sache richtig
verstanden habe, hat sie nicht zwei Kinder zur Adoption freigegeben, sondern
deren drei.« Er ließ die Aktenstapel auf den Schreibtisch fallen und deutete
auf den obersten. »Weil ich die Sache ziemlich spannend fand, habe ich gleich
ihre komplette Akte mitgebracht, deshalb hat es auch so lange gedauert.
Vielleicht hilft es ja weiter, ein wenig darin zu stöbern.«
Lenz und Hain beugten
sich neugierig nach vorne.
»Die Adoptionen wurden
definitiv hier im Haus betreut?«, fragte Hain ungläubig.
Vockeroth bedachte ihn
mit einem gespielt tadelnden Blick und deutete auf die weiteren Papiere. »Aber
ja, natürlich. Das hier sind die dazugehörigen Unterlagen. Wenn Sie wollen,
können Sie sich gern etwas darin umsehen, meine Herren. Was wir hier machen,
ist ohnehin nichts für die große Glocke, also bedienen Sie sich. Ich sehe
derweil nach den Adoptiveltern.« Damit griff er nach dem dicken Ordner auf dem
Tisch, schlug ihn auf und begann zu lesen.
Petra
Soffron war in Kassel geboren worden. Ihre leibliche Mutter, eine amtsbekannte
Prostituierte, hatte sich nicht besonders ambitioniert um sie gekümmert,
weshalb das Mädchen schon im Alter von drei Jahren in einem Heim untergebracht
worden war. Danach hatte sie zwischen ihrem siebten und ihrem 13. Lebensjahr
bis zu deren Tod bei ihrer Großmutter gelebt, gefolgt von der Unterbringung im
Karlshof. Die erste Entbindung war im Juni 1975 vermerkt, die zweite im August
1977. Auch war dokumentiert worden, dass die Kinder in beiden Fällen zur
Adoption freigegeben wurden.
›Vater unbekannt‹ ,
war jeweils in der dafür vorgesehenen Spalte
vermerkt.
1978, mit dem Erreichen
der Volljährigkeit und dem Auszug aus dem Karlshof, endeten die Einträge. Lenz
klappte den Ordner zu und sah zu Vockeroth, der auf einem Block Notizen machte.
»Alle Adoptionen sind bis
ins Detail dokumentiert«, erklärte dieser zufrieden. »Das ist damals noch nicht
mit der heute üblichen Sorgfalt erledigt worden, deshalb bin ich sehr glücklich
darüber.«
»Das heißt, wir können
nachvollziehen, wo die Kinder von Frau Soffron gelandet sind?«
Der Jugendamtsleiter sah
den Hauptkommissar strafend an. »Welch eine Wortwahl, Herr Lenz. Sie reden ja
fast wie ein paar meiner Mitarbeiter. Aber im Ernst, Sie haben recht. Ich habe
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