Schmutzengel
ab.
Natürlich sagte er: »Ich wollte doch nicht gestört werden.« Dann lauschte er.
»Ja.« Kurze Pause. »Ja, Marisa, was gibt es denn?«
Er lauschte länger, runzelte die Stirn, blickte verwirrt, dann ärgerlich, dann ungeduldig, dann wieder verwirrt.
»Aber wenn oben Wasser kommt, muss doch auch unten Wasser kommen.« Er sprach langsam, wiederholte noch einmal. Er lauschte
wieder.
»Dann stellen Sie die Maschine ab und rufen Sie den Installateur.«
Pause.
»Den Handwerker.« Pause. »Den Mann, der die Rohre repariert.« Er lauschte.
»Ja, ich kümmere mich selbst darum. Moment. Bleiben Sie dran, legen Sie nicht auf.«
Er drückte ein paar Tasten, gab der Person am anderen Ende der Leitung den Auftrag, einen Installateur anzurufen und zu seiner
Privatadresse zu schicken und ihm Bescheid zu sagen, wann der Mann ankäme, damit er seine Putzfrau entsprechend informieren
könne, und legte auf.
»Entschuldigung«, sagte er zu mir, den Kopf ein bisschen in meine Richtung gewandt, die Augen aber immer noch fest auf das
Telefon geheftet, an dem ein kleines rotes Licht blinkte. »Wo waren wir?«
Bevor ich vorschlagen konnte, ihm etwas über meine Fähigkeiten, Kenntnisse und beruflichen Erfahrungen zu erzählen, klingelte
das Telefon wieder, er nahm eine offenbar kurze Information entgegen, drückte auf die Taste über dem roten Blinklicht und
sagte: »Der Installateur kommt um zwei.«
Stirnrunzeln, Lauschen, Augenverdrehen, Fingertrommeln.
»Dann holen Sie Ihren Sohn vom Kindergarten und gehen noch mal zurück.«
Lauschen.
»Gut, dann versuche ich, einen anderen Installateur zu bekommen. Bleiben Sie dran.«
Erneutes Telefonat mit der Sekretärin.
»Entschuldigung«, den Körper leicht zu mir gewandt, mit Schweißperlen auf der Stirn und die Augen fest auf das Telefon geheftet.
»Meine Putzfrau sagt, dass die Waschmaschine kein Wasser zieht, der Installateur kann erst um zwei, aber sie muss ihren Sohn
vom Kindergarten abholen und hat danach einen Termin beim Kinderarzt und dann kommt der Installateur nicht herein, deshalb
muss ich jetzt noch einen anderen suchen.«
In dem Moment geschah es. Ich hatte einen Geistesblitz.
Mir stand meine berufliche Zukunft so klar vor Augen, als würde sie auf der großen Bühne des Schauspielhauses gezeigt und
ich säße in der ersten Reihe.
Mein Blick muss starr geworden sein, denn Herr Thyssen sah mich mit besorgtem Blick an und fragte mit leichter Panik in der
Stimme: »Ist Ihnen nicht gut?«
»Doch, mir geht es bestens, danke«, sagte ich und hätte fast laut gelacht.
Herr Thyssen nahm das Bewerbungsgespräch wieder auf, indem er mit leicht glasigem Blick fragte: »Äh, wo waren wir?«
Ich erläuterte meinem sehr unkonzentrierten Zuhörer meine Fähigkeiten, Kenntnisse und beruflichen Erfahrungen – allerdings
nicht, weil ich hoffte, diese Stelle zu bekommen, sondern weil ich nicht wusste, wie ich ihm schonend beibringen sollte, dass
ich in seiner Agentur gar keinen Job mehr haben wollte. Ja, dass ich überhaupt nicht mehr in meinem erlernten Beruf als Werbekauffrau
arbeiten wollte. Weder in seiner noch einer beliebigen anderen Agentur voller selbstverliebter Pfaue und elfenhafter Schönheiten.
Ich sprach daher routiniert aber lustlos, er hörte kaum zu und so verabschiedeten wir uns bald in friedlichem Einvernehmen
voneinander.
3
»Ich möchte mich selbstständig machen«, erklärte ich meiner Arbeitsberaterin am nächsten Morgen.
Sie nickte. Händigte mir Formulare aus. Schweigend. Ich nahm sie entgegen, steckte sie in meine Handtasche, dankte artig,
verließ das Gebäude und stellte mich an die Straßenbahnhaltestelle. Trat von einem Fuß auf den anderen, ging auf den zwei
Quadratmetern verfügbarer Fläche auf und ab. Es half nichts.
Ich war zu aufgedreht, um irgendwo auf irgendetwas zu warten, und beschloss, zu Fuß zu gehen.
Ich trug die falschen Schuhe, es war kalt, außerdem begann es zu nieseln, aber ich genoss meinen Fußmarsch. Erinnerungen an
lange Spaziergänge erschienen vor meinem geistigen Auge. Angefangen hatte ich damit zu Hause in der Eifel, obwohl die wenigsten
Eifler wandern. Aber Oma liebte es und ich liebte es, weil sie es liebte. Wir machten jeden Sonntag eine ausgedehnte Wanderung,
im Frühjahr zu den wilden Narzissen, im Herbst zum Pilzesammeln, im Sommer frühmorgens und im Winter durch den Schnee. Auch
in den ersten Jahren in Düsseldorf ging ich viel zu Fuß, verzichtete häufig auf die
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