Schmutzengel
›Sokos‹.
Ich fahre langsam im dichter werdenden Schneetreiben mit Tausenden anderen Autos in Richtung Innenstadt, als mich ein Niesanfall
packt. Zweimal, dreimal, viermal, alles läuft, ich kann nichts mehr sehen und biege daher vor derAuffahrt zur Brücke nach rechts auf einen großen, leeren Platz ein. Es dauert mehrere Minuten, bis ich mich so weit beruhigt
habe, dass ich wieder aus den Augen gucken und meine Umgebung bewusst wahrnehmen kann.
Ich befinde mich auf dem alten Bahngelände. Hier halten Güterzüge, werden Waggons ab- und angekoppelt und zu neuen Zügen zusammengestellt.
Das weiß ich, weil Greg und ich damals eine Wohnung ganz in der Nähe besichtigt haben. Der Lärm der Güterzüge hat uns schließlich
davon abgehalten, sie zu mieten.
Greg! Meine Augen füllen sich erneut mit Tränen, als ich an ihn denke. Wie sehr könnte ich jetzt seine starken Arme brauchen.
»Sentimentalität ist etwas für samstagabends, mein Kind«, hatte Oma früher gesagt, wenn ich sie fragte, ob ich wohl einmal
einen Märchenprinzen heiraten würde. »Märchenprinzen taugen fürs Kino, aber nicht fürs Leben. Denke praktisch, nur so kommst
du weiter.«
Omas Stimme im Kopf lässt meine Träume versiegen. Mit verquollenen Augen starre ich in die Dunkelheit und sehe auf einmal
die Lösung meines Problems klar und hell vor mir: Ich müsste nur die Leiche in einen der vielen Waggons packen, die darauf
warten, zu einem Zug zusammengestellt und irgendwohin weit weggebracht zu werden, dann wäre ich den Kerl los. Genau das ist
es! Ich unterdrücke gerade noch einen Jubelschrei und steige aus dem Auto.
Als müsste ich mir nur die Beine vertreten, schlendere ich mit zitternden Knien auf dem Platz herum und nehme die Umgebung
in Augenschein. Etwas weiter hinten gibt es eine Rampe zu einer Art Bahnsteig, dessen Oberkante auf einer Höhe mit dem Boden
der Waggons liegt. Zwei Waggons stehen dort, einer ist leer. Und die schwere Schiebetür steht offen.
Das ist der Ort meiner Rettung.
Ich muss mich allerdings gedulden, bevor ich meinen Plan in die Tat umsetzen kann. Dieser Platz wird nämlich als inoffizieller
Park-and-ride-Parkplatz für die nahegelegene S-Bahn -Haltestelle genutzt. Mist. Ich beschließe, erst noch einmal nach Hause zu fahren. Ich brauche passende Kleidung, dicke Schuhe
und einen Teller heiße Suppe, um nicht vor dem Leichen-Dumping selbst an Unterkühlung zu sterben.
Sechs nervenzerfetzende Stunden später, von denen ich einige im Halbschlaf, die meisten aber Fingernägel kauend am Küchentisch
verbringe, biege ich wieder auf das alte Bahngelände ein und sehe mich vorsichtig um. Der riesige Parkplatz ist jetzt dunkel
und unheimlich. Ich kann keinen weiteren Wagen sehen, also fahre ich schnell und ohne Umstände quer über den Platz bis zur
Verladerampe. Sie ist nicht beleuchtet, liegt in einem schwer einsehbaren Winkel weit hinten auf dem Gelände und – entscheidend!
– außer mir ist niemand hier. Der Waggon steht Gott sei Dank noch da.
Wenn es so etwas wie einen idealen Ort gibt, in Düsseldorf unauffällig eine Leiche loszuwerden, dann ist es wohl dieser.
Mit Schwung fahre ich die Rampe hoch. Dann aber brauche ich drei Anläufe, bis ich mich endlich traue, aus dem Wagen zu steigen.
Um Geräusche zu vermeiden, lehne ich die Fahrertür nur an. Der Schlüssel steckt im Zündschloss, damit ich jederzeit verschwinden
kann. Ich blicke mich so hektisch um, dass mir schwindelig wird. Mit beiden Händen halte ich mich einen Moment an der Heckklappe
fest, bevor ich endlich den Mut finde, sie zu öffnen.
Und tatsächlich, da liegt er. Genau so, wie ich ihn vor drei Tagen in den Wagen gequetscht hatte. Mit verdrehtem Hals, halb
auf der Seite liegendem Oberkörper und angewinkelten Beinen. Anders kriegt man einen ausgewachsenen Mann nicht in den Kofferraum
eines Kleinwagens. Ich rede mir ein, dass es einem Toten egal ist, wie er liegt, aber trotzdem quält mich mein schlechtes
Gewissen. So sollte niemand enden. Niemand sollte als Leiche entsorgt werden wie ein Sack Müll, den man irgendwohin wirft,
um ihn loszuwerden. Mir steigen Tränen in die Augen, die ich hastig wegwische. Gefühlsduselei kann ich mir nicht leisten.
Jetzt nicht mehr. Die moralischen Bedenken hätte ich haben können, als er noch in Lauensteins Kühlraum lag. Jetzt, nachdem
ich ihn drei Tage in meinem Kofferraum durch die Gegend kutschiert habe, ist es dafür zu spät.
Ich schlucke
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