Schmutzengel
kaum zu erkennen, da sie mit dem Rücken zum Fenster saß und ich ins Licht schauen musste. Ich ließ
mich nicht beirren.
»Ich war ein egoistisches Biest.«
»Definiere egoistisches Biest.«
»Du hast mir so viel geholfen, hast mir deine Zeit und deine Ideen geschenkt und die Werbung für die Schmutzengel, und ich
habe mich nie revanchiert. Ich habe dir mein Herz ausgeschüttet, aber nie gefragt, wie es dir eigentlich geht. Ich habe dich
nie gefragt, ob das popelige Honorar, das ich dir angeboten habe, angemessen ist. Ich fand es völlig normal, dass du immer
kamst, wenn ich dich brauchte, hatte aber für dich keine Zeit.«
Ich musste Luft holen und trank einen Schluck Kaffee.
»Weiter«, forderte Tabea.
»Ich habe dir selten gedankt und dir nie gesagt, dass du meine wichtigste und beste Freundin bist.«
»So etwas muss man nicht unbedingt sagen«, sagte sie. Ihre Stimme klang etwas weicher als eben.
»Ich habe die Wertschätzung auch nicht anderweitig zum Ausdruck gebracht.«
Tabea schob sich das Croissant in den Mund, ich biss in mein Rosinenmürbchen und spülte mit einem Schluck Kaffee nach. Fast
hätte man meinen können, dass alles wieder gut war.
Fast.
»Was ist mit Sonntagabend?«, fragte Tabea leise.
Darauf hatte ich gewartet. Jetzt wurde es richtig schwer.
»Es tut mir leid, dass das passiert ist«, sagte ich vorsichtig. »Ich hab gar nicht groß nachgedacht und reflexartig reagiert.«
Sie sog hörbar die Luft ein.
»Ich fühlte mich so ausgeliefert und hilflos, und du hast meine Schwäche ausgenutzt und eine Grenze überschritten. Dazu hattest
du kein Recht. Verstehst du das?« Ich rang nach Worten und wusste, dass diese Worte entscheidend sein würden für unsere weitere
Beziehung.
»Und ich bin auch noch eine Frau«, sagte Tabea.
Ich schüttelte heftig den Kopf. »Das hat damit nichts zu tun.«
»Glaub ich doch.«
»Nein. Ich hätte genau gleich reagiert, wenn du ein Mann gewesen wärst.«
Sie schwieg. Lange. Auch ich wusste nichts zu sagen, also hielt ich den Mund. Es war kein angenehmes Schweigen. Ich hielt
die Spannung nicht aus und stand auf. Wollte gehen.
»Dein Fernsehauftritt gestern war einsame Spitze«, sagte Tabea plötzlich. »Du hast viel gelernt.«
Ohne sie anzusehen konnte ich hören, dass sie lächelte.
»Von dir«, erwiderte ich rasch.
»Gute Besserung«, sagte sie, und jetzt hörte es sich eher an, als weine sie.
»Danke«, entgegnete ich und ging.
Der zweite Fernsehauftritt brachte einen weiteren Schwung neuer Aufträge mit sich, den Lisbeth nicht mehr allein bewältigen
konnte. Hilfe kam in Gestalt einer jungen Frau aus Lisbeths Hauswirtschaftskurs, die ich sofort einstellte. So vergingen die
Wochen mit Arbeit und Arbeit und noch mal Arbeit. Zum Glück kehrte irgendwann eine gewisse Routine ein. Unser Kundenstamm
wuchs jetzt nur noch langsam, sodass wir mit der Organisation gut Schritt halten konnten. Es gab eine wöchentliche Besprechung,
zu der Lisbeth, Herr Metzenrath, die neue Mitarbeiterin Pauline und ich uns morgens im Büro trafen, miteinander frühstückten
und die aktuellen Fälle besprachen.
Herr Metzenrath entwickelte ein gesteigertes Interesse an Lisbeth, aber sie gab ihm klar zu verstehen, dass eine neue Beziehung
für sie nicht infrage kam. Er trug es mit Fassung.
Tabea hatte den Internetauftritt gleich nach unserem gemeinsamen Frühstück wieder in Ordnung gebracht, aber nichts von sich
hören lassen. Ich hatte sie einmal kurz angerufen, aber mehr als ein paar belanglose Sätze hatten wir nicht gewechselt. Sie
hatte keine Zeit. Immerhin war der Ton nicht mehr feindselig gewesen.
Auch Greg hatte sich gemeldet, aus ganz praktischen Gründen. Wegen eines Versehens bei meiner Krankenversicherung war die
neue Versichertenkarte an meine alte Adresse geschickt worden, und Greg wollte nun wissen, ob er sie mir per Post zuschicken
oder bringen solle. Die Brisanz der Frage fiel mir erst später auf, denn just in dem Moment kam noch ein weiterer Anruf herein.
Ich rief Gregschnell zu, er solle mir die Karte zuschicken, dann nahm ich das Kundentelefonat an.
Warum hätte er mir meine Versichertenkarte bringen sollen? Warum, wenn nicht aus dem Grund, dass er mich sehen wollte?
Diese Frage beschäftigte mich zunehmend, denn je besser die Arbeit lief, desto mehr Zeit hatte ich plötzlich wieder für mein
Privatleben. Für mein nicht existierendes Privatleben.
Eine meiner ersten Freizeitaktivitäten bestand
Weitere Kostenlose Bücher