Schmutzige Haende
ich vielleicht gar nicht verreisen will?
Guercio kratzte sich am Kopf und rang die Hände. Er blickte sie mit einem flehenden Blick an, der besagte: Mach mir keine Schwierigkeiten. Bring dich nicht in Schwierigkeiten. Es war eindeutig, dass der Befehl keine Widerrede duldete. Patrizia dachte an Scialoja. An seinen begründeten Argwohn. Sie fragte sich, ob sie sich mit ihrer Lüge, ihre Beziehung zu Secco betreffend, nicht eine Hintertür offengelassen hatte. Ob sie ihn nicht absichtlich provoziert hatte, um ihre große Lüge zu offenbaren. Aber wenn sie sich wirklich nach Freiheit sehnte, dann hatte sie die Möglichkeit verspielt, sie zu erlangen. Sie hätte ihm alles erzählen sollen. Sie hatte es nicht getan. Aus Loyalität? Aus Angst? Weil sie nicht bereit war, sich aus Rossettis Herrschaft zu befreien? So machte Stalin seinen berechtigten Besitzanspruch geltend. Während der andere, Scialoja, sie hatte gehen lassen. In deinem Leben gibt es keine edlen Ritter, die bereit sind, den Turm zu besteigen, um dich aus den Klauen des Drachens zu befreien, arme kleine Patrizia. In deinem Leben gibt es nur einen Herrn und der heißt Stalin Rossetti.
– Schon gut, ich beeile mich.
Guercio begleitete sie ans Ende der Landebahn, wo bereits die Motoren des Privatflugzeugs liefen. Während er ihren Koffer trug, flüsterte ihr Guercio ein schüchternes „Danke“ ins Ohr. Patrizia küsste ihn auf die Wange. Guercio wurde puterrot.
Stalin empfing sie an Bord mit einem Lächeln und einem Glas eiskalten Champagner.
Aber ja doch, Champagner! Paris! Die Kakofonie ihres Lebens. Stalin verliebt. Stalin, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Stalin, der verschwand und mit einem Riesenblumenstrauß wieder auftauchte. Stalin im Museum und Stalin bei den Bouquinisten an der Rive Gauche. Stalin im Louvre und Stalin im
Chez Lipp
. Stalin, der mit dem Pianisten in dem alten Hotel in der Rue d’Aubisson
Les fueilles mortes
sang. Stalin mit den Kreditkarten ohne begrenzten Kreditrahmen. Stalin, der in einer
Boîte
hinter der Bastille Koks für sie kaufte, von einem Schwarzfuß und Halsabschneider, und ihn ihr dann vorstellte: Maurice irgendwas, ein alter Kamerad von der SDECE, dem französischen Geheimdienst. Der bewundernde Blick des Mannes. Der Brechanfall im Klo des Hotels, mitten in der Nacht. Stalin, der ihr den Schweiß abwischte. Stalin, der das alte Koks im Klo runterspülte. Frühstück im großen Bett mit violettem Baldachin. Systematische Plünderung der Boutiquen an der Rive Droite. Die Kakofonie ging langsam und hinterhältig in eine Symphonie über. Die Zeit der großen Verwirrung. Stalin, der eine magische Macht auf sie ausübte. Kapitulation. Am letzten Abend im
Coupole
war Stalin, der Verführer, plötzlich ganz kühl.
– Der Urlaub ist vorbei. Morgen wird wieder gearbeitet.
– Nach dem, was vorgefallen ist, hat es keinen Sinn, wenn ich die Nähe zu ihm suche.
– Stimmt. Aber er wird zurückkommen. Er hat sich blamiert. Wir sitzen am Drücker, Liebling.
Patrizia senkte den Kopf. Stalin gönnte sich einen erleichterten Seufzer. Es hatte funktioniert. Eine Scheißwoche, voller Heucheleien und Süßholzraspeln, aber das war die einzige Möglichkeit, das Gleichgewicht des Systems wiederherzustellen.
3.
Das Mädchen war im Morgengrauen aufgetaucht. Guercio hatte sie kaum wiedererkannt. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, Arm in Arm mit Pino Marino, war sie ihm wie eine der merkwürdigen Muttergottesfiguren erschienen, die der Imagination des Jungen entsprangen. Eine schöne Muttergottes, hatte Guercio zugeben müssen, der oft und gern zur Messe ging und sich im Beichtstuhl stundenlang zahlreicher Sünden bezichtigte, die beim jeweiligen Pfarrer immer wieder für Ungläubigkeit sorgten. Jetzt, wo sie vor ihm stand, verwahrlost und zerzaust, mit dunklen Ringen unter den Augen und einem langen Kratzer auf der linken Wange, schmutzigen Haaren und hinkend, sah er in ihr den Junkie, der sie im Grunde immer gewesen war. Und auch bleiben würde. Tatsächlich bat sie ihn gleich um Stoff. Im Tausch gegen ihren berühmten Blowjob.
Guercio war zwar keine Leuchte, aber ein paar elementare Dinge hatte er auf immer und ewig verinnerlicht. Dazu gehörte auch die Gleichung Valeria ist gleich Pino Marino. Eine Gleichung mit dem Zusatz: Pino Marino ist gleich Zoff. Er hatte ihn bei der Arbeit gesehen. Er wusste, wozu der kleine Straßenköter fähig war. Mit der ganzen Anmut und Höflichkeit, zu der er aufgrund seiner
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