Schnappschuss
dazugeben, er wird die Untersuchungen beeinflussen wollen, und er wird versuchen, seine Familie zu schützen. Wir werden das alles zulassen, in einer Hinsicht zumindest. Wir werden hören, was er zu sagen hat, werden die Untersuchung in den von ihm vorgeschlagenen Richtungen weiterverfolgen, wahrscheinlich haben wir selbst auch schon daran gedacht, und wir werden ihn ganz allgemein in dem Glauben lassen, dass er den Ton angibt. Im Augenblick fordert er noch keinen Einsatz aller Kräfte. Wenn die Lage zu unübersichtlich wird, werde ich mir schon was einfallen lassen. Hauptsache, er vergeudet nicht Ihre Zeit, okay?«
Ellen schob ihre Notizen in eine Mappe. »Schließen wir nun aus, dass Janine McQuarrie das beabsichtigte Opfer war?«
»Nein«, erwiderte Challis rundheraus, »ganz gleich, was der Super denkt.«
Challis sah, wie Ellen verstohlen einen Blick auf die Uhr warf. »Gehen Sie nach Hause«, sagte er. »Ich werde Christina Traynor durch die Datenbanken jagen. Scobie, ich möchte, dass Sie die Diebstähle von Fahrzeugen durchgehen. Mich interessieren vor allem die älteren Modelle, helle Lackierung, und werfen Sie Ihr Netz im ganzen Bundesstaat aus.«
»Chef.«
Ellen packte weiter ihre Notizen ein. »Hat Janines Schwester sonst noch etwas gesagt?«
Challis hatte gelernt, Ellens Gedanken zu lesen. »Sie glauben, dass sie uns von Janines Liebesleben ablenken will«, vermutete er.
Ellen zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass sie uns heute alles gesagt hat.«
Challis nickte gerade zustimmend, als sein Telefon klingelte. Es war die Telefonzentrale, die nach ihm suchte. Da sei ein Mann in der Leitung, der behaupte, er habe Informationen zum Mord an Janine McQuarrie. Challis sagte ihnen, sie sollten das Gespräch mitschneiden, den Anruf zurückverfolgen und durchstellen. Dann schaltete er das Telefon auf Lautsprecher um und sagte: »Inspector Challis.«
Die Stimme tauchte aus dem Nichts auf wie eine Maus aus dem Loch. »Sind Sie der Typ, der für den Mord an Janine McQuarrie zuständig ist? Die Frau in den Nachrichten?«
Challis beugte sich vor, hörte ganz genau auf die Stimme, die Hintergrundgeräusche und alles, was es noch zu hören gab. Schwer, das Alter zu bestimmen. Undeutlich, betrunken oder stoned. Argwöhnisch und wachsam: wegen der ungewöhnlichen Situation oder weil er schon mit der Polizei zu tun hatte? Kein Verkehrslärm oder sonstige Geräusche.
Vorsichtig fragte Challis: »Möchten Sie der Polizei etwas mitteilen?«
Es war wichtig, sich zurückzuhalten, keine Hektik, kein Drängen, kein Beeinflussen. Außerdem war es wichtig herauszufinden, ob es sich um einen falschen Anrufer oder um eine traurige Gestalt handelte, die nur nach Aufmerksamkeit lechzte.
Ganz eilig sagte der Mann: »Was ist, wenn was passiert, von dem man nicht dachte, dass es dazu kommen wird?«
Ganz bedächtig antwortete Challis: »Unsere Aufgabe besteht nicht darin, Leute für Dinge zu beschuldigen, die sie nicht getan haben.«
»Ich habe nicht gewusst, dass er so weit gehen würde.«
»Wer? Ein Freund von Ihnen? Haben Sie vor ihm Angst? Wir können Ihnen Schutz anbieten.«
Stille, die Sekunden verstrichen, und dann sagte der Anrufer mit enttäuschter Stimme: »Ich wette, Sie verfolgen den Anruf zurück«, und legte auf.
»Und?«, fragte Challis und sah die anderen beiden an.
»Er war nicht lange genug in der Leitung, um ihn zu finden«, sagte Scobie.
»Welchen Eindruck haben Sie von ihm?«
»Der Anruf war echt, Chef.«
»Ellen?«
»Echt.«
»Okay«, sagte Challis, »wir müssen in den Abendnachrichten und in den Zeitungen morgen früh damit rauskommen. Es wimmelt eh schon überall von Reportern, die werden wir also gar nicht erst groß überreden müssen. Das Übliche: ›Die Polizei möchte noch einmal mit dem anonymen Anrufer sprechen, der sich mit Hinweisen zu dem Mord an Janine McQuarrie gemeldet hat.‹ Wer weiß, vielleicht treten wir damit etwas los.«
19
Nach Challis’ Erfahrung kehrten nur sehr wenige Verbrecher jemals an den Tatort zurück – es sei denn, sie waren stockdumm, versuchten verräterische Beweisstücke zu sichern oder legten es ganz bewusst darauf an, verhaftet und verurteilt zu werden. Polizeibeamte wiederum taten dies sehr oft, auch Challis, und so hielt er auf der Heimfahrt an diesem Dienstagabend am Haus Nummer 283 Lofty Ridge Road an, stieg aus und stand eine Weile im Dämmerlicht des Tages da.
Der tropfnasse, dunkle Himmel legte sich immer dichter um ihn. Das
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