Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)
natürlich auch schwer vermittelbar, dass Leute freiwillig unter Bedingungen Urlaub machen, unter denen sie früher so schwer gelitten haben wollen. Also feiern wir mit den letzten Überlebenden der westdeutschen Mittelschicht noch ein paar unbeschwerte Tage Sozial-Fasching: Sie verkleiden sich als Tennis-Profis, wir gehen als Westdeutsche – nichts leichter als das. Man muss nur seine Teller genau so voll schaufeln wie sie, das Wort »Konsum« auf der zweiten Silbe betonen und darf nicht lachen, wenn sie beim »Indoor-Cycling« mal richtig aus sich rausgehen – auf einem Hometrainer 4000 Kilometer von zu Hause. Dies nur, falls wir mal wieder über alte Umweltsünden im Osten reden: Schnauze, Wessi!
»What if the democracy we thought we were serving
no longer exists,
and the Republic has become the
very evil we’ve been fighting to destroy?«
Padmé Amidala, Star Wars III, Revenge of the Sith
Die Urne ist der Sarg der Demokratie
Wahlen im Osten galten für Politik und Medien schon immer als Lotterie. Nun setzt sich langsam auch im Westen die einzig wählbare Partei durch, die nie enttäuscht: Keine. Eine Wahlanalyse.
Da rätseln sie wieder: Sind knapp 53 Prozent Wahlbeteiligung in Sachsen-Anhalt nun gut, weil besser als zuletzt 44, oder immer noch schlecht? Gingen am Ende doch mehr Leute aus Angst vor Erdbeben in Japan wählen oder nur davor, der globale Westen könnte bei demokratischem Fehlverhalten nach Tripolis auch wieder mal Magdeburg bombardieren? Wollten sie wirklich den Einzug der NPD in den Landtag verhindern oder eher den der FDP? Es ist doch immer wieder eine Freude, wenn westdeutsche Wahlforscher, Wahrsager und andere Sterndeuter ihre Mutmaßungen über den mutmaßlichen Willen der mutmaßlichen Brüder und Schwestern im Osten anstellen.
Politiker und Journalisten tun dann so, als sei es eine Art Staats- oder Wahlgeheimnis, dass die Mehrheit mit dem parlamentarischen Getue ihrer Besatzer noch nie viel anfangen konnte. Ein paar westdeutsche Ost-Experten wie etwa Klaus Schröder vom Forschungsverbund SED-Staat fürchten sogar völlig zu Recht eine »Demokratieentfremdung«, die auch unter marktwirtschaftlich geborenen Erstwählern wächst. Manche Ältere gehen trotzdem noch hin, weil der Kandidat ihr Nachbar ist oder niemand den zugezogenen Gegenkandidaten leiden kann. Und sicher können sich auch ein paar ewig Gestrige dem heimlichen Zwang nicht entziehen, der heute im Westen fast so verbreitet ist wie seinerzeit unter Honecker: Dem so genannten Urnengang als Bürgerpflicht. Im Osten gilt das sonst höchstens noch für Beerdigungen, weil sich kaum noch jemand einen Sarg leisten kann.
Seit 20 Jahren nehmen aufgeklärte Ostdeutsche weder an »Super-Wahljahren« teil, noch teilen sie die inszenierte Spannung von »Wahlkämpfen«, mit der sich Westdeutsche alle paar Jahre vom Klassenkampf ablenken lassen. Lange wurden sie dafür als Demokratieverächter verachtet. Läppische Prozentzahlen galten als Gradmesser ihrer Assimilation. Verwählten sich doch mal ein paar, hätte man die falsche Partei am liebsten gleich verboten. Und natürlich vergaßen die neuen Staatsbürgerkunde-Lehrer aus dem Westen in ihrer Empörung gern, dass die NPD lange vor ihren lächerlichen Auftritten in Dresden und Schwerin auch schon in den Landtagen von Hessen, Bayern, Bremen, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Schleswig-Holstein saß. Statt alle Ergebnisse im Osten ehrlicherweise zu halbieren und den vielen Nichtwählern zu danken, die sich anders entschieden haben, sollten die sich auch noch dafür schämen. Demokratie: Note sechs. Nachsitzen!
In Wahrheit war der Osten nur einmal mehr Vorreiter einer Bewegung, als sich im Westen noch niemand vor selbstgerechten »Wutbürgern« oder »Piraten« gruselte und Politikredakteure »Ansichten eines Nichtwählers« als bürgerlichen Ungehorsam ausgaben. Das stille Nein hat hierzulande Tradition. Die reicht bis vor 1989 zurück, zumindest bei etwa einem Prozent, wenn man mal die gefälschten Statistiken der DDR zu Grunde legt. Und damals wurden renitente Leute noch von Wahlhelfern zu Hause besucht oder schon schief angeschaut, wenn sie nur die Wahlkabine benutzten.
Heute fühlen sich die gleichen Menschen von westdeutschen Medien zur Wahl gegängelt. Auch deshalb sagen sie in Umfragen lieber einmal zu viel Nein als noch einmal zu wenig. Das wirkt dann, als würden sie sich inzwischen mehr mit der DDR identifizieren als damals. Dabei wehren sie sich nur auf ihre
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