Schnee an der Riviera
diese herzenstiefen Bande, die mich manchmal fast ersticken.«
»Nein, das habe ich nicht, auch weil Marita es nicht zulässt«, antwortete er brüsk. Nelly bedauerte, ihn verletzt zu haben. Carlo hatte eine Tochter mit einer ecuadorianischen Frau, mit der er für kurze Zeit zusammengelebt hatte, ein kleines, elfjähriges Mädchen namens Vanessa. Nach zahllosen Auseinandersetzungen und Krächen hatte Marita mit ihr vor acht Jahren Italien verlassen und ihn beschuldigt, gewalttätig zu sein und ihr die Tochter wegnehmen zu wollen; vor einem Gericht ihres Landes hatte sie schließlich durchgesetzt, dass er Vanessa nicht mehr sehen und keinen Fuß mehr auf ecuadorianischen Boden setzen durfte. Carlo hatte alle legalen Hebel in Bewegung gesetzt, doch vergebens. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als jeden Monat Alimente für die Kleine zu zahlen und zu hoffen, dass diese Erpressung eines Tages, wenn das Mädchen größer wäre, vielleicht ein Ende haben würde. Doch all diese für die Entwicklung eines Kindes entscheidenden Jahre waren dennoch verloren und eine tiefe Beziehung zwischen ihm und Vanessa so gut wie unmöglich. Carlo hatte sehr darunter gelitten, und gewiss litt er noch immer, auch wenn er fast nie darüber sprach.
»Entschuldige, Liebster, ich bin echt ein Trampel.«
Nelly legte ihm die Hand auf den Arm und drückte ihn sanft.
»Ach was. Selbst ich vergesse manchmal, dass ich eine Tochter habe. Und eigentlich habe ich ja auch gar keine. Ich sollte mich endlich damit abfinden, aber wie du siehst, bist du mit deiner Irrationalität nicht allein.« Er lächelte gequält.
»Ich muss los. Sehen wir uns heute Abend bei mir?«, fragte sie hastig.
»Ist gut.«
Carlos Stimme klang wieder heiter.
»Also bis heute Abend. Ciao.«
Ein flüchtiger Kuss, und schon war sie weg. Carlo deckte den Tisch ab, räumte die Spülmaschine ein und dachte an Nellys wiewohl nicht ganz vollständige Erzählung. Sie achtete immer sehr genau darauf, keine »Betriebsgeheimnisse« preiszugeben. Doch auch so gab es genug, worüber man sich einen Nachmittag lang den Kopf zerbrechen konnte.
FÜNFTER TAG
Nachmittag
Im Polizeipräsidium herrschte dicke Luft. Dottor Volponi war glücklicherweise für einige Tage außer Haus, da er nach Rom gerufen worden war aus Gründen, die er seinen Untergebenen nicht mitzuteilen gedachte. Auch der Zeitpunkt seiner Rückkehr war ungewiss, in drei, vier, fünf Tagen? Nur Tano Esposito, stellvertretender Leiter des Polizeipräsidiums, war über die geheimnisvollen Reisen seines Chefs informiert. Und nun wollte er Dottoressa Rosso sehen. Sofort. Er erwartete sie in seinem großen, unpersönlichen Büro.
Er war nervös, das sah sie auf den ersten Blick. Er bedeutete ihr, Platz zu nehmen, und beugte sich über seinen massiven, mit Akten beladenen Schreibtisch zu ihr hin.
»Dottoressa Rosso, was halten Sie von der Geschichte mit dem Pittaluga-Mädchen? Ich bekomme fast minütlich Anrufe wegen ihr, ich werde noch wahnsinnig. Dem Himmel sei Dank, dass der Polizeipräsident nicht da ist! Der stellt uns an die Wand. Wie weit sind Sie mit den Ermittlungen?«
»Wir stehen kurz vor dem Durchbruch«, log Nelly mit fester Stimme, »aber ich kann noch nicht genau sagen, wann wir genug Beweise haben, um eingreifen zu können.«
»Aha.«
Seine hellen Augen lagen forschend auf ihr, und sie war sich sicher, dass Esposito ihren Bluff durchschaute. Oder doch nicht? Der Neapolitaner ließ sich in seinen dunklen Ledersessel zurücksinken und seufzte.
»Menschenskinder, nicht dass wir sie auch noch in einem Fischernetz aus dem Meer ziehen müssen, die Kleine! Hübsches Ding. Eine wahre Schönheit.« Esposito seufzte erneut.
Er senkte den Blick und bewunderte Monicas Foto, das auf seinem Tisch lag.
»Darf ich?«, fragte Nelly und streckte die Hand nach dem Bild aus.
Ihr stockte der Atem. Monica war ganz in Weiß gekleidet und schaute mit ernstem Blick aufs Meer hinaus, die blonden Haare hingen ihr offen über die Schultern. Im Hintergrund das Haus, das ...
»Woher haben Sie das?«
»Der Anwalt der Familie Pittaluga hat uns mehrere Fotos zukommen lassen, neueren und älteren Datums. Und Gerolamo hat noch einige von der Mutter bekommen. Ich dachte, Sie wüssten davon und hätten sie schon gesichtet.«
Seine Stimme klang vorwurfsvoll.
»Ja, natürlich, aber das hier muss mir entgangen sein. Ich bräuchte es für die Ermittlungen, wenn Sie erlauben, Dottore«, sagte Nelly rasch und nahm das Foto an sich.
Sie
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