Schnee an der Riviera
vermochte die Gegenwart nur ein paar Augenblicke lang zu verdrängen. Mit einem tiefen Atemzug kehrte die Kommissarin in ihr Büro zurück, das sie im Geiste verlassen hatte. Auf dem Handy wählte sie die Nummer ihres Stellvertreters Auteri. Doch statt Marco antwortete die eher kühle Stimme seiner Freundin Luciana. Sie sagte, er schlafe, er brauche viel Ruhe wegen des erlittenen Schocks. Die Ärzte hätten ihm geraten, sich von der Arbeit fernzuhalten, auch gedanklich. Ganz abzuschalten. Nelly fragte sich, wie er das anstellen wollte ...
»Dann grüß ihn bitte, und gute Besserung von uns allen. Ciao, Luciana.«
Nelly beendete die Verbindung und seufzte. Dann konnte sie also nicht einmal auf Marcos Rat hoffen. Luciana hatte ihm gnadenlose Abschottung verordnet. Sie war eine ängstliche Frau, immer in Sorge wegen seines gefährlichen Berufs. Wahrscheinlich konnte sie es gar nicht fassen, dass er dieses Mal tatsächlich außen vor und ganz in ihrer Hand war. In gewisser Weise verstand Nelly sie sogar.
Der Sonntag stand bevor, doch angesichts von Monicas Verschwinden war an Schlaf ohnehin nicht zu denken. Das Wochenende versprach keine Erholung und Ruhe schon gar nicht. Wenn jemand hinter der Ausreißerin her war, würde er sich um den Feiertag garantiert nicht kümmern.
Es klopfte, und Valeria betrat gutgelaunt und triumphierend das Zimmer. Sie hatte die Informationen über Matteo Albini. Dreiunddreißig Jahre alt, geboren in Alexandrien, die Eltern Italiener, keine Vorstrafen. Er hatte an verschiedenen Orten gelebt, im Ausland und in Italien. Als junger Mann hatte er eine Karriere als Mittelgewichtsboxer angestrebt, war dann Trainer für Kampfsportarten geworden, Söldner in Afrika, Rausschmeißer in Nachtlokalen, Leibwächter. Seit fünf Jahren arbeitete er für Gianandrea Pittaluga. Ein harter Bursche, so schien es. Nelly lobte sie für ihre schnellen Ergebnisse, und Valeria errötete geschmeichelt.
Es war schon nach sieben, als die Kommissarin das Polizeipräsidium verließ. Ohne weiter vorangekommen zu sein. Aus dem Val Fontanabuona gab es noch keine Nachricht, und auch die Infos zur Firma Pittaluga ließen auf sich warten. Sandra war nicht erreichbar. Es war Freitag Abend, verflixt. Alle waren verschwunden, hatten sich in Luft aufgelöst. Nur die Pittalugas setzten über ihren Anwalt Himmel und Hölle in Bewegung. Doch es half alles nichts. Vielleicht würde Monica ja irgendwann ein Lebenszeichen von sich geben, sie konnte sich doch denken, welche Ängste ihre Familie ausstand. Oder vielleicht war genau das ihre Absicht, machte ihr sogar Spaß? Oder war es ihr egal? Wenn es um Monica ging, gelang es Nelly einfach nicht, objektiv zu bleiben. Geradezu allergisch reagierte sie mittlerweile auf dieses Mädchen. Vor allem seit sie überzeugt war, dass ihr Sohn ihr etwas Wichtiges verheimlichte und dass dieses Etwas mit Monica zu tun hatte. Sie musste mit ihm reden, so schnell wie möglich.
Als sie nach Hause fuhr, dankte sie dem Himmel, dass Carlo dort auf sie wartete. Er war der einzige Lichtblick in diesem düsteren, mit Fragezeichen gespickten Szenario. An der Ecke Via Fieschi stand ihre Marokkanerin mit den Blumenkörben. Sie hatte Veilchen, die echten, kleinen. Nelly kaufte vier Sträußchen und sog immer wieder tief ihren Duft ein – ein Duft nach Frühling, nach Kindheit, nach erster Liebe –, und das Leben schien ihr einen Moment lang weniger grausam und ungerecht.
FÜNFTER TAG
Abend
Carlo hatte alles für Bruschette vorbereitet und saß nun, als sie nach Hause kam, auf der Terrasse, Silvestro auf dem Schoß und den Blick aufs Meer gerichtet. Sie lief zu ihm und küsste ihn auf den Mund.
»Ich liebe, liebe, liebe dich, was für ein Glück, dass du hier bist!«
Zu ihrer Überraschung errötete Carlo vor Freude.
»Wirklich?«
»Wirklich. Wenn du nicht da bist, lebe ich zwar, aber nur halb.«
»Das sagst du mir zum ersten Mal.«
»Ja, weiß der Himmel warum. Aber es stimmt. Wenn du nicht da bist, funktioniere ich nur, ohne richtig zu leben. Ist ... ist es schlimm, Herr Doktor?«
»Ich fürchte ja, Signora. Die Diagnose ist eindeutig, und meist gibt es kein Gegenmittel: Sie sind verliebt.«
»Und ... das ist unheilbar?«
»Das will ich doch schwer hoffen«, lachte Carlo und zog sie in seine Arme, wobei er um ein Haar Silvestro eingequetscht hätte, der instinktiv die Krallen ausfuhr und unter zornigem Miauen wie eine Rakete unter den Tisch floh. Die Veilchen, die mit dem Jasmin um die Wette
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