Schnee an der Riviera
versperren, und er hat sie zur Seite geschubst. Als er gesehen hat, dass sie hingefallen ist und am Kopf blutete und bewusstlos war, ist er schreiend aus der Klasse gestürzt. Da ist Mau, der bis dahin nur ungläubig zugeguckt hat, aufgesprungen und hinter ihm hergerannt. Das ist alles, was ich weiß.«
»Und du kannst dich nicht erinnern, was Franci in der Hand hatte?«
»Keine Ahnung, ich hab’s nicht richtig gesehen. Sein Handy vielleicht.«
»Sie haben ihn durchsucht, sein Handy hatte er nicht bei sich. Kannst du morgen um fünfzehn Uhr ins Präsidium kommen? Ich oder ein Kollege werden deine Aussage aufnehmen.«
»Ist gut, Nelly. Darf ich jetzt gehen?«
Als Nelly nickte, kam sie auf sie zu und küsste sie völlig unerwartet auf die Wangen, wie sie es als Kind immer gemacht hatte.
»Grüß’ Mau ganz lieb von mir«, flüsterte sie.
Der Duft von Opium , Monicas teurem Erwachsenenparfüm, das kein bisschen zu ihrer schlichten Kleidung passen wollte, hüllte sie einen Moment lang ein. Dann war die grazile Gestalt durch die Tür ins Innere des Hauses verschwunden.
»Zufrieden?«, fragte Federica eisig, nachdem Monicas Wangenkuss ihre alte Eifersucht wieder hatte aufflammen lassen.
»Das scheint mir keine Angelegenheit zu sein, bei der man mit irgendwas auch nur ansatzweise zufrieden sein könnte.«
»Vor allem, wenn der eigene Sohn mit drinsteckt.«
»Ganz genau. Und an deiner Stelle würde ich mich nicht allzu sehr in Sicherheit wiegen. Diese Kinder sind immer wieder für eine Überraschung gut. Lass mich wissen, wenn dir irgendetwas Merkwürdiges auffällt, in eurem eigenen Interesse. Auf Wiedersehen, Federica.«
Signora Pittaluga war zu empört, um etwas zu erwidern. Steif wie ein Besenstiel brachte sie Nelly zur Tür und verabschiedete sie frostig.
Zurück im Büro, veranlasste Nelly, dass sämtliche Schulkameraden der beiden Jungen am kommenden Tag vernommen würden, und zwar nicht nur die der 12 a. Selbst die kleinste Information konnte aufschlussreich sein. Aus dem Krankenhaus war zu hören, dass sich der Zustand der Lehrerin gebessert hatte und sie wahrscheinlich bald aufwachen würde. Nelly beschloss, bei den Fallaris anzurufen und ihren Besuch anzukündigen. Sie wollte mit Miriam reden, ehe Monica es täte. Oder hatten die beiden bereits alle Zeit der Welt gehabt, sich abzusprechen?
Diesmal begleitete Privitera sie. Während sich der Dienstwagen mit Marcello am Steuer langsam durch den Verkehr auf dem Corso Europa Richtung Riviera schob und bei Nervi in die Aurelia nach Bogliasco einbog, fragte Nelly, wen man mit der Beschattung von Habibs Familie beauftragt hatte.
»Nicola, Dottoressa, wie ich schon gesagt hatte. Wenn der in Zivil in der Altstadt unterwegs ist, fällt er keinem auf. Manchmal wird er sogar um Stoff angehauen. Und er hat’s echt drauf.«
»Gut. Die kleine Pittaluga behauptet, Habib sei nie ihr Freund gewesen.«
»Kein Wunder«, bemerkte Privitera, der nichts anderes erwartet hatte.
»Wie schön die Riviera hier ist«, seufzte Nelly und schwelgte wie immer im Anblick des vorbeiziehenden Meeres und der prächtig blühenden Gärten. Der graue Himmel war aufgerissen, und ein Sonnenstrahl brach durch und spiegelte sich im Wasser.
»Sie sollten mal sehen, wie schön es da ist, wo ich herkomme, Commissario. An der Küste bei Trapani.«
»Ich bin noch nie in Sizilien gewesen, dabei träume ich schon ewig davon. Jedes Jahr sage ich mir wieder, diesmal fahre ich hin, und dann bleibe ich doch in Genua hängen oder schaffe es gerade mal bis Castagnole.«
Castagnole war das Dorf unweit von Asti, in dem sie geboren war und wo ihr Elternhaus stand. Inzwischen lebten dort ein Bruder und eine Schwester ihres Vaters, beide steinalt, doch es gab noch eine kleine Wohnung für sie und Mau. Ein wenig außerhalb, in einem Tal zwischen den Hügeln, stand der alte Hof der Großeltern.
Inzwischen hatten sie Bogliasco erreicht und klingelten an einem Tor zur Straße. Das Tor sprang automatisch auf, und der Wagen rollte über einen gefährlich schmalen, kurvigen Weg Richtung Meer. Links und rechts Häuser mit Gärten. Auf einem Vorplatz hielt Marcello an und wendete den Wagen. Nelly und Privitera gingen zum Haus der Fallaris. Das Rattern eines Zuges ließ sie zusammenfahren: Weiter unten, vom Grün des Parks versteckt, führte die Bahn entlang, und der ohrenbetäubende Krach verwandelte das kleine Paradies für Sekunden in die Hölle, ehe er in der Ferne verhallte.
Auch diesmal öffnete eine
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