Schnee an der Riviera
Geheimnis. Sandra war Maus Patentante. Wenn Nelly und Mau einmal nicht da waren, was selten genug vorkam, war sie sofort zur Stelle und kümmerte sich um die Katzen. Seufzend verdrängte Nelly die Wut darüber, so unsanft geweckt und vom Südseestrand fortgerissen worden zu sein, wo sie gerade mit einem gesichtslosen Mann – Carlo? – ziemlich guten Sex gehabt hatte, und ergab sich, wenn auch nicht ohne einen letzten, verzweifelten Versuch der Gegenwehr, dem Unausweichlichen.
»Selbst wenn ich dich sehen wollte, Sa, wüsste ich wirklich nicht wann. Ich hab bis über beide Ohren zu tun ...«
»Geh doch erst mal richtig schön duschen, so zehn Minuten vielleicht, und dann bin ich schon mit einer frischen Focaccia unterm Arm bei dir. Du setzt einen Kaffee auf, und wir frühstücken zusammen. Und plaudern ein bisschen. Ich stehe praktisch schon vor deiner Tür.«
Es gab kein Entrinnen.
»Bis gleich, Sa.«
»Danke, mein Schatz.«
Die beiden Frauen saßen auf der Terrasse. Die Luft war lau, auch wenn man so früh am Morgen noch einen Wollpulli brauchte. Genussvoll machten sie sich über die Focaccia her. Sandra wusste, was Nelly schmeckte, und hatte auch noch ein Stück mit Zwiebeln mitgebracht. Die Katzen waren den Freundinnen schnurrend um die Beine gestrichen und hatten es sich bequem gemacht. Silvestro lag in Nellys Arm, Minni in Sandras und Pippo auf dem gemütlichen Kissen eines vakant gebliebenen Korbstuhls. Die Espressokanne stand auf dem Eisentisch, und die Welt schien in Ordnung. Schließlich brach Nelly den Frieden.
»Und, bist du gekommen, um die Aussicht zu genießen?«
»Die Aussicht hier ist die Focaccia wert, aber ... Übrigens, wo ist eigentlich Mau?«
Nelly wurde noch wachsamer als Silvestro.
»Wieso fragst du mich das?«
»Um diese Uhrzeit müsste er doch zu Hause sein, oder?«
»Und woher willst du wissen, dass er es nicht ist?«
»Nein, Nelly, so wird das nichts. Ich bin zwar Journalistin, aber ich bin vor allem deine Freundin, die dich und deinen Sohn liebt. Ich hab dich das nicht als Journalistin gefragt, ich weiß, dass er nicht zur Schule geht, und bei unserer Zeitung ist ein anonymer Brief eingegangen.«
Nelly starrte sie an. Sandra war eine recht kleine, rundliche Frau mit unregelmäßigen Zügen, dunklen Augen und ebenso dunklem, kurzem Haar. Sie war stets bestens geschminkt, was ihren verführerisch sinnlichen Mund besonders hervorhob. Ihre Kleidung war immer eine Spur knapper als nötig und betonte ihren üppigen Busen und die runden, weiblichen Hüften. Auch der nicht weniger runde Bauch kam zur Geltung, und da alles immer einen Tick zu kurz war, waren auch ihre schönen Beine und die schlanken Fesseln zu sehen. Nachdem eine zwanzigjährige Beziehung mit einem berühmten Literaten in die Brüche gegangen war, lebte sie allein, doch richtig allein war sie eigentlich nie. Ohne viel Federlesens wechselte sie von einer kurzen Beziehung zur nächsten. Sie war verlässlich, schamlos, witzig und schlagfertig, rau und romantisch, neugierig, zärtlich, kratzbürstig und empfindlich, eine echte Frau eben. An diesem Tag trug sie einen grauen Rock, der genauso lang wie breit zu sein schien, und ein feuerrotes Kaschmirtwinset. Nach einer jugendlichen Lotter-Look-Phase war sie bei einem konservativen Kleidungsstil Marke Genueser Oberschicht angekommen, den sie mit ausnahmslos echtem Schmuck abrundete: Ohrringe mit Brillanten und kleinen Smaragden, dazu eine Goldkette von Sforza. Doch wirkte an ihr nichts je wirklich elegant noch vulgär: Sandra war Sandra, nicht mehr und nicht weniger. Eine Naturgewalt eben.
»Ein anonymer Brief welchen Inhalts? Und wieso seid ihr damit nicht zur Polizei gegangen?«
»Bist du etwa nicht die Polizei? Ehe ich irgendwelche offiziellen Schritte unternehme oder eben nicht, wollte ich ihn dir zeigen.«
Sie hielt ihr ein mit dem Computer getipptes, auf einem weißen Blatt Papier ausgedrucktes Schreiben hin. Es lautete:
»Wenn ihr mehr über die Vorfälle am Klee-Gymnasium wissen wollt, sucht nach dem verschwundenen Sohn des Gesetzes und im Garten der Macht.«
Nelly erstarrte und las den Brief noch ein Mal und noch ein Mal.
»Das ist nur wieder irgend so ein Verrückter«, flüsterte sie und sah weit über den Hafen hinweg in die Ferne.
»Ich hab sofort an Maurizio gedacht. Der Sohn des Gesetzes ... der Sohn einer Kommissarin, Zeuge eines Verbrechens, Freund eines der ermordeten Jungen. Doch was hat ›der Garten der Macht‹ zu bedeuten? Mein Chef weiß
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