Schnee in Venedig
wenig Leuten zu begegnen.
Eine halbe Stunde später hatte er die Gewissheit, dass auch die zweite Vorhersage der Kaiserin eingetroffen war. Ihre Hoheit, erklärte ihm der erstaunte Majordomus im Palazzo der Principessa, habe das Haus heute Nachmittag gegen drei verlassen, um ihn, den Conte, zu treffen. Ein Gondoliere der Trons habe eine schriftliche Nachricht des Conte präsentiert und Ihre Hoheit abgeholt. Es tue ihm Leid, sagte er noch, wenn dem Conte Unbequemlichkeiten entstanden seien. Offenbar liege ein Missverständnis vor und er hoffe, es ließe sich aufklären. Wo denn die Principessa sei?
Als Tron wieder vor den Palazzo der Principessa trat, schien das Schneetreiben noch heftiger geworden zu sein. Der Wind, mittlerweile zur Stärke eines Sturms angeschwollen, kam böig aus allen Richtungen, türmte Schneeverwehungen auf seinen Weg und fegte Pulverschneelawinen von den Dächern, Wolken aus winzigen, stechenden Kristallen, die wie kalte Funken auf der Gesichtshaut brannten. Die Sicht war auf ein paar Meter zusammengeschrumpft, zugeschneit, verwischt. Wenn Tron den Kopf hob und versuchte, das Weiß zu durchdringen, peitschte der Sturm ihm Schneestaub in die zusammengekniffenen Augen.
Nein, dachte Tron, während ihm eine Windhose voller Schnee ins Gesicht klatschte und er gerade noch rechtzeitig die Luft anhalten konnte – nein, er würde natürlich nicht bei Haslinger
klingeln
, so als wären sie zum Kaffee verabredet. Ein Mann, der gerade eine Frau entführt hatte und beabsichtigte, sie in aller Ruhe zu töten, würde das Klingeln der Türglocke zweifellos ignorieren. Schon der Gedanke, dass Haslinger ihm die Tür öffnen würde, war lachhaft – der Ingenieur würde sich mausetot stellen. Aber Haslinger würde auch keinen Besucher erwarten, überlegte Tron weiter. Und schon gar keinen Besucher, der auf die Betätigung des eisernen Klingelzuges neben der Tür verzichtete und stattdessen unangemeldet in seinen Salon spazierte – mit einem großen Trommelrevolver in der Hand.
Die meisten der stattlichen Paläste, die den Canalazzo säumten, waren zur Wasserseite hin gut gesichert, hatten jedoch zur Landseite oft Fenster, die – auch im Erdgeschoss – lediglich von einfachen Haken verschlossen gehalten wurden, und viele Schlösser an den Haustüren waren nicht schwieriger aufzubrechen als die Deckel von Pralinenschachteln. Das war unlogisch, hing aber vermutlich damitzusammen, dass für die Venezianer jahrhundertelang die Bedrohung von der Wasserseite her gekommen war. Tron hoffte, dass es sein Vorhaben erleichtern würde.
In der Dunkelheit verirrte er sich beinahe in dem Labyrinth der kleinen Gassen zwischen dem Rio San Lio und dem Rio Santi Apostoli. Zweimal musste er umkehren, weil er in eine Sackgasse geraten war, und es dauerte quälend lange, bis er endlich den Campiello del Lion Bianco gefunden hatte, an dessen Westseite sich der Palazzo da Mosto erhob.
Tron legte den Kopf in den Nacken, um festzustellen, ob in den oberen Stockwerken des Gebäudes Licht zu entdecken war, doch die Fassade war vollständig dunkel, eine schweigende, undurchdringliche Festung. Auch die schwere Eichentür sah ungewöhnlich solide aus, so als könnte allenfalls eine Schar Gallier oder Goten sie aufstemmen. In der unteren Fensterreihe jedoch entdeckte Tron ohne Überraschung ein Fenster, dessen Laden einen Spaltbreit offen stand. Das Fenster erinnerte ihn an die Luke im Dach der Bleikammern und gab ihm ein gutes Gefühl.
Drei Minuten später war er eingestiegen und lauschte mit angehaltenem Atem in die Dunkelheit, um festzustellen, ob sich im Inneren des Hauses etwas rührte.
Er hörte nichts.
Das einzige Geräusch, das an seine Ohren drang, war das gedämpfte Pochen seines Herzens und – direkt zu seinen Füßen – ein hektisches Trippeln, so als würden Ratten (er hatte den Eindruck, dass es sich um
ziemlich große
Ratten handelte) sich eilig in Sicherheit bringen.
Tron tastete sich in fast vollständiger Dunkelheit zehn Schritte geradeaus, dann stand er plötzlich in einem schwach erleuchteten Gang, an dessen Ende eine an der Wand befestigte Öllampe zu sehen war. Die Tür danebenführte, wie erwartet, auf einen Innenhof, ein zugeschneites Geviert, das Tron überqueren musste, um in den eigentlichen Palazzo da Mosto zu gelangen – in den Teil des Gebäudekomplexes, der direkt am Canalazzo lag. Tron drehte den Kopf in den Nacken, aber auch hier war an keiner der vier Fassaden, die den Innenhof umschlossen, ein
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