Schnee in Venedig
Lichtschein zu sehen. Der Himmel über ihm war ein sternenloses dunkelgraues Quadrat, das sich kaum vom Schwarz der Fassaden abhob.
Das einzige Licht kam von zwei brennenden Fackeln, die in einem kurzen Bogengang befestigt waren, der in den Palazzo führte. Ein Luftzug im Inneren des Gebäudes schien das Licht der Fackeln an- und abschwellen zu lassen – ein pulsierendes Strahlen, dem Schlag eines Herzens vergleichbar. Einen Moment lang hatte Tron die absurde Vorstellung, dass der Palazzo da Mosto, dessen Mauern die Gefühle seiner Bewohner jahrhundertelang aufgesogen hatten wie ein Schwamm, lebendig geworden war, ein eigenständiges, vielleicht sogar empfindendes Wesen.
Tron überquerte den Innenhof und registrierte das fast lautlose Knirschen, das sein Fuß auf der Schneedecke verursachte – ein Geräusch, das er aus Gründen, die er nicht benennen konnte, als beruhigend empfand. Dann lief er durch den Bogen, an den Fackeln vorbei, und als er den Palazzo da Mosto betrat, zog er seinen Revolver. Er spannte den Hahn (der mit einem metallischen Klicken einrastete) und sah sich, mit dem Finger auf dem Abzug, vorsichtig um.
Er stand in einem geräumigen Vestibül, fünf Schritte vom Fuß einer breiten Treppe entfernt, die nach oben zum
piano nobile
führte. Alle fünf Stufen war eine Öllampe an der Wand des Treppenhauses befestigt – fast so, dachte Tron, als würden ihn die Lampen nach oben geleiten wollen.
Den Schrei, von oben kommend und so dünn wie ausPapier geschnitten, hörte er, als er seinen Fuß auf die erste Treppenstufe setzte. Fast gleichzeitig spürte er eine Bewegung hinter seinem Rücken, gefolgt von einem pfeifenden Luftzug.
Aber da war es bereits zu spät, um dem Schlag auszuweichen und mit der Waffe in der Hand herumzuwirbeln. Der Knüppel (der – wie sich später herausstellen sollte – mit Filz umwickelt war) traf ungehindert seine Schläfe. Tron ließ den Revolver fallen, sein Oberkörper kippte ruckartig nach vorne, seine Füße verhakten sich, und er stürzte.
Das Letzte, was ihm durch den Kopf schoss, bevor er das Bewusstsein verlor, war die Frage, wie Haslinger erfahren haben könnte, dass er kommen würde.
56
Zuerst war das Bild grau und unscharf – wie eine Fotografie, die man unter Wasser betrachtet. Dann wurde es farbig, gewann Konturen, und Tron, der zusammengesackt wie ein Betrunkener auf einem Stuhl kauerte, erkannte auf der anderen Seite des Tisches Haslinger. Der Ingenieur hatte den Lauf von Sivrys Revolver auf Trons Stirn gerichtet und sah ihn erwartungsvoll an.
Tron hob den Kopf und stellte fest, dass die
sala
des Palazzo da Mosto deutlich kleiner war als der Ballsaal des Palazzo Tron. An der linken Wand sah er eine gewaltige Florentiner Kredenz, auf der eine hüfthohe Marienstatue stand – eine wunderbare, grazile Holzfigur aus dem 15. Jahrhundert. Die drei Fenster an der Schmalseite des Raumes, der ganz unvenezianisch mit dunklem Holz vertäfelt war, gingen vermutlich zum Canal Grande hinaus.
Offenbar hing Haslinger im privaten Bereich einer konservativen Beleuchtungspolitik an, denn er benutzte nicht einmal Petroleumlampen. Stattdessen wurde der Raum von mindestens zwei Dutzend Kerzen erleuchtet, die im Zusammenspiel mit den dunklen Tönen der Wandverkleidung eine feine Patina aus Kupfer über den Tisch zu legen schienen.
Als Haslinger sprach, wirkte seine schnarrende Stimme wie ein Kratzer auf dieser schönen Oberfläche. «Ich hatte Milan gebeten, seine Kräfte zu zügeln», sagte er mit einem Blick auf den livrierten Diener, der sich neben Trons Stuhl aufgebaut hatte. «Der Schlag sollte Sie nur außer Gefecht setzen, damit wir Ihnen die Waffe wegnehmen konnten.»
Aus den Augenwinkeln registrierte Tron, dass Haslingers Diener allen Grund hatte, seine Kräfte zu zügeln – er war der größte Mann, den er jemals gesehen hatte. Tron schätzte, dass der Bursche ihn um mindestens drei Köpfe überragte – die Schultern waren so breit, dass er vermutlich gezwungen war, durch die meisten Türen schräg hindurchzugehen. Es wäre Wahnsinn, sich mit ihm anzulegen.
Tron sah Haslinger ins Gesicht. «Was haben Sie mit mir vor?» Er war überrascht, wie gelassen sich seine Stimme anhörte.
Haslinger lächelte. «Ich dachte, wir trinken ein Glas zusammen. Wie alte Freunde. Und reden über das, was passiert ist. Ich finde, das ist die gnädigste Methode.»
Der Ingenieur deutete auf eine Flasche und ein Wasserglas mit einer gelblichen Flüssigkeit. Neben der Flasche
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