Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schnee in Venedig

Schnee in Venedig

Titel: Schnee in Venedig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
Vom Netzwerk:
Oberkörper so weit aus der Luke zu ziehen, dass er beide Ellenbogen auf das Dach setzen konnte. Dann stemmte er den Rest seines Körpers aus der Luke und glitt auf die Dachschräge. Dort drehte er sich um und kroch langsam nach oben. Zwei Meter höher, auf dem Dachfirst, nahm er vorsichtig eine sitzende Position ein und sah sich um.
    Der Himmel schien sich bis auf eine Mastlänge über die Stadt und den Dogenpalast gesenkt zu haben. Über alles hatte der unablässig fallende Schnee einen Vorhang aus grauer, fetter Seide geworfen. Tron hatte erwartet, die Masten der Schiffe zu sehen, die an der Riva degli Schiavoni angelegt hatten, den Umriss des Campanile und des Uhrenturms an der Nordseite des Markusplatzes, aber alles, was er sah, während ihm ein eisiger Ostwind unablässig Hiebe aus Schnee versetzte, waren unter ihm die beiden Ränder des Daches und der First des Flügels, auf dem er saß. Irgendwo vor ihm im Unsichtbaren würde der mit dem First des Moloflügels zusammenstoßen.
    Tron brauchte fünf Minuten bis zum Ende des Seitenflügels, weitere zehn Minuten bis zum Ende des Moloflügels. Dort ließ er sich vorsichtig bis an den Rand des Daches hinabgleiten.
    Er hatte Glück. Das Baugerüst reichte fast bis an das Dach heran, und Minuten später stand Tron unten. Zwei vermummte Gestalten, die eine Leiter trugen – vielleicht die Laternenanzünder   –, gingen dicht an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken. Um zum Palast der Prinzessin zu kommen, hätte Tron am Giardino Reale vorbeilaufen müssen. Stattdessen bog er nach rechts ab, überquerte die menschenleere Piazzetta und lief zügig über den Markusplatz. Er brauchte noch etwas, und er wusste, wo er es bekommen würde.
    Als Tron die Tür zu Sivrys Laden aufstieß, erblickte er sich in Sivrys elegantem Rokokospiegel, der fünf Schritte von ihm entfernt an der Wand hing, und blieb erschrocken stehen. Über seine Stirn zog sich eine blutige Schramme. Der linke Ärmel seines Mantels war bis zum Ellenbogen aufgerissen, seine Kleidung völlig durchnässt. Wasser tropfte vom Saum seines Mantels.
    «Commissario!»
    Sivry war erschrocken von seinem Schreibtisch aufgesprungen und starrte Tron mit weit aufgerissenen Augen an. Dann ging er zur Tür und schloss ab.
    «Was ist passiert?», fragte er.
    Tron lächelte schief. «Zu viel, als dass ich es Ihnen jetzt erzählen könnte.» Mit Rücksicht auf Sivrys kostbare Fauteuils blieb er stehen.
    «Sind sie hinter Ihnen her?», fragte Sivry. In seinen Augen zeigte sich ein anerkennendes Flackern.
    Tron nickte. «Könnte man so sagen. Ich komme direkt aus den Bleikammern.»
    Sivry war Anfang der fünfziger Jahre in Venedig aufgetaucht, und es gab Gerüchte, dass er gezwungen gewesen sei, Paris aus politischen Gründen zu verlassen. «Sie sind aus den Bleikammern geflohen?» Die Bewunderung in Sivrys Stimme war nicht zu überhören.
    Tron lächelte bescheiden. Er machte eine Handbewegung, als wolle er sagen: Das ist doch nicht der Rede wert.
    «Was kann ich für Sie tun, Conte?»
    «Erinnern Sie sich an den Revolver, den ich eigentlich hätte beschlagnahmen müssen?»
    «Selbstverständlich.»
    «Ich brauche ihn», sagte Tron.
    Sivry trat an die Kommode, nahm den Revolver aus der obersten Schublade und reichte ihn Tron.
    «Er ist geladen», sagte Sivry. «Ich nehme an, Sie werden mir nicht sagen, was Sie damit vorhaben. Und deshalb frage ich Sie auch nicht.» Sein Blick fiel auf Trons Gehpelz. «Aber ich glaube, Sie brauchen einen anderen Mantel und einen Hut.» Er wartete Trons Antwort nicht ab, sondern nahm einen pelzgefütterten Mantel aus dem Garderobenschrank und reichte ihn dem Commissario. «Ich bestehe darauf.» AlsTron den Mantel angezogen hatte, sagte er: «Sie sind in Schwierigkeiten, nicht wahr?»
    «Es sieht ganz danach aus», sagte Tron.
    «Müssen Sie die Stadt verlassen?»
    «Nicht, wenn ich Glück habe.»
    «Dann wünsche ich Ihnen Glück.»
    «Danke, Monsieur de Sivry. Danke für den Revolver und den Mantel.»
    Sivry machte eine wegwerfende Handbewegung. Dann öffnete er die Tür, warf einen forschenden Blick auf die Piazza und nickte Tron zu.

55
    Tron hätte die Fähre hinter Santa Maria del Giglio nehmen können, um auf die andere Seite des Canal Grande zu gelangen, aber dann entschied er sich für die Brücke an der Accademia. Auf diese Weise würde er zehn Minuten länger zum Palast der Principessa unterwegs sein, aber die Fähre war bei jedem Wetter besetzt, und Tron hielt es für besser, möglichst

Weitere Kostenlose Bücher