Schnee in Venedig
aufhören, Ihre Ermittlungen hinter Pergens Rücken fortzusetzen. Und Ihren absurden Plan fallen lassen, einen Bericht zu schreiben.» Spaur stach so heftig in einen Marillenknödel, als wolle er ein kleines, gefährliches Tier töten. «Und dann kann ich Ihnen noch etwas verraten, Commissario.»
«Was?»
«Man erzählt sich, Moosbrugger habe über jeden einzelnen Kunden Buch geführt. Und die Telegramme aufbewahrt, mit denen die Herren sich auf der
Erzherzog Sigmund
avisiert haben. Wenn das stimmt, hat er seine Kunden in der Tasche.»
Spaur kippte den zweiten (oder dritten?) Cognac in seinen Kaffee und nahm anschließend einen kräftigen Schluck aus der Tasse, bevor er sich dem letzten seiner Marillenknödel widmete. Seine Gesichtsfarbe hatte sich inzwischen in ein leuchtendes Rotviolett verwandelt. Tron bezweifelte, dass Spaur heute noch zu ernsthafter Arbeit in der Lage sein würde, aber das von Spaur zu erwarten wäre auch niemandem in den Sinn gekommen.
«Exzellenz?»
Die Stimme hinter Trons Rücken hatte zu Spaur gesprochen. Der hob sein rotviolettes Gesicht aus der Betrachtung des Marillenknödels und sah auf.
Tron drehte sich um. Einen Moment lang dachte er, Grillparzer würde vor ihm stehen. Aber es war nur ein Leutnant in der Uniform der kroatischen Jäger, der einen Umschlag in der Hand hielt und salutierte.
Spaur nahm den Umschlag und wog ihn in der Hand. Erwar braun und auf der Rückseite mit einem roten Dienstsiegel verschlossen. So dünn, wie er war, konnte er höchstens zwei Bogen enthalten.
«Würden Sie mir verraten, worum es geht, Leutnant?»
Das Gesicht des Leutnants war ausdruckslos, als er sagte: «Der Lloydfall ist gelöst, Exzellenz.»
Spaur hätte beinahe den Umschlag auf den Marillenknödel fallen gelassen. «Wie bitte?»
Der Leutnant sprach jedes einzelne Wort noch einmal so langsam aus, als wäre es ein Tropfen Öl, der ins Wasser fällt und einen Moment darauf liegen bleibt, bis der nächste folgt. «Der Lloydfall ist gelöst, Exzellenz.»
Spaur wartete, bis der Leutnant den Speisesaal verlassen hatte, bevor er das Siegel erbrach. Er fischte seinen Kneifer aus der Brusttasche seines Gehrocks, setzte ihn auf und begann, den Brief zu lesen. Dann las er ihn zum zweiten Mal, und Tron sah, wie er ungläubig den Kopf schüttelte. «Es scheint, als hätte Pergen mit seiner Vermutung Recht gehabt.»
Tron beugte sich über den Tisch. «Pellico?»
Spaur nickte. «Oberst Pergen hat ihn noch gestern Abend verhaftet. Er hat den Mann gestern Nacht verhört und das Verhör heute Vormittag fortgesetzt.»
«Und?»
«Der Oberst ist davon überzeugt, dass er den richtigen Mann verhaftet hat.»
«Liegt ein Geständnis vor?»
Spaur schüttelte den Kopf. «Das konnte leider nicht mehr unterzeichnet werden, schreibt Pergen.»
«Warum nicht?»
Spaurs Gesicht war ausdruckslos. «Weil Pellico tot ist. Hat sich aufgehängt. In einer Verhörpause. Oberst Pergen wertet das als Schuldgeständnis.»
«Dann hätte der Oberst diesen Fall in erstaunlich kurzer Zeit gelöst.»
«Eine bewundernswerte Leistung.»
«Es sei denn, man findet, dass er diesen Fall
zu
schnell gelöst hat», sagte Tron.
Spaur musterte Tron mit zusammengekniffenen Augen. «Was wollen Sie damit andeuten?»
«Ich hätte es lieber gesehen, wenn es eine Anklage und ein Verfahren gegen Pellico gegeben hätte», sagte Tron.
«Trauen Sie Oberst Pergen nicht?»
«Der Selbstmord Pellicos lässt eine Reihe von Fragen offen, die nur Pellico hätte beantworten können. Abgesehen davon finde ich es bemerkenswert, dass Oberst Pergen einen Leutnant ins
Danieli
schickt, um uns mitzuteilen, dass der Fall gelöst ist. Eigentlich muss er davon ausgehen, dass ich gar nicht mehr ermittle.»
«Vielleicht hat Pergen erfahren, dass Sie gestern im Casino Molin waren.»
«Offenbar will er mich so schnell wie möglich wissen lassen, dass ich keinen Grund habe, die Ermittlungen fortzusetzen», sagte Tron.
Spaur schob den Teller mit dem Marillenknödel zur Tischmitte und löste die Serviette aus seinem Kragen. «Den haben Sie auch nicht, Commissario. Vergessen Sie den Lloydfall. Und vergessen Sie auch, was Sie über Moosbrugger erfahren haben.»
14
Als Tron zwei Stunden später an der Dogana aus der Fähre stieg und sich nach rechts wandte – der Palazzo der Principessa lag zwischen dem Rio San Vio und der Accademia –, stellte er fest, dass er auf seinem alten Schulweg entlanglief und dass die Tage, in denen er das
Seminario
Weitere Kostenlose Bücher