Schnee in Venedig
finden.»
Elisabeth erhebt sich, um zu signalisieren, dass die Audienz beendet ist. «Noch etwas, Herr General.»
«Kaiserliche Hoheit?»
«Dieses Mädchen – wie ist es getötet worden?», fragt Elisabeth.
Toggenburgs Antwort kommt schnell und ohne dass der Stadtkommandant nachdenken muss. «Sie wurde erschossen, Kaiserliche Hoheit.»
Elisabeth ist der festen Überzeugung, dass Männer nicht in der Lage sind zu lügen, ohne sich dabei zu verraten. Franz Joseph zum Beispiel kann keine Lüge aussprechen, ohne dabei auf seine Schuhspitzen zu starren und anschließend nervös an seinem Schnurrbart zu zwirbeln. Als der Stadtkommandant ihr erzählt hat, dass sein Bericht nicht die Empfehlung enthält, sie nach Wien zurückzuholen, hat er gelogen. Elisabeth hat es am Ausdruck in seinen Augen gesehen. Aber als sie ihn gefragt hat, wie das Mädchen gestorben ist, da hat er nicht gelogen – was nur heißen kann, dass man ihn selber belogen hat.
Denn irgendetwas sagt Elisabeth, dass das, was die Wastl der Königsegg erzählt hat, der Wahrheit entspricht. Demnach hat dieser Oberst Pergen den Stadtkommandanten belogen. Aber warum? Weil er wusste, was Toggenburg hören wollte? Weil er es für besser hielt, das wegzulassen, was nicht ins Bild eines politisch motivierten Verbrechens passte?
Die Version Pergens ist eindeutig. Der Hofrat wird in seiner Kabine erschossen, damit der Täter die Papiere an sich nehmen kann. Und das Mädchen, eine Zeugin, muss beseitigt werden. Das ist logisch und plausibel. Und solange diePapiere nicht gefunden werden, folgt aus dieser Version genau das, was Toggenburg will: dass Elisabeth gezwungen ist, entweder im Palazzo Reale zu hocken oder Venedig zu verlassen.
Nur: Unplausibel wird diese Version dann, wenn man weiß, dass das Mädchen erwürgt und zuvor misshandelt wurde. Denn kann man sich diesen Hofrat wirklich als mordendes Monstrum vorstellen? Elisabeth, die in Erfahrung gebracht hat, dass der Hofrat die sechzig bereits überschritten hatte, glaubt nicht daran. Und dieser Pellico? Erstens findet Elisabeth, dass sein Tod sein Geständnis erheblich relativiert, und zweitens (wenn er es überhaupt war) ist es extrem unwahrscheinlich, dass er entweder vor oder nach der Ermordung des Hofrats einen weiblichen Passagier der
Erzherzog Sigmund
gefesselt, misshandelt und erwürgt hat. Übrig bleibt der Schluss, dass an der Geschichte etwas faul ist.
Und was hat dieser Italiener, überlegt Elisabeth weiter – was hat dieser Commissario Tron herausgefunden? Warum hat Oberst Pergen ihn noch am Tatort abserviert? Aber diesen Commissario in den Palazzo Reale zu bitten, entscheidet Elisabeth, wäre ein Fehler. Toggenburg würde davon erfahren und womöglich auf den Gedanken kommen, dass sie der offiziellen Version dieses Verbrechens nicht traut.
Man müsste, denkt Elisabeth, während sie am Fenster steht und auf die Piazza San Marco hinabblickt – man müsste mit dem Verlobten der Wastl Kontakt aufnehmen. Und zwar
direkten
Kontakt, denn die Vorstellung, die Wastl dazwischenzuschalten, gefällt ihr nicht. Und wenn es stimmt, was die Wastl gesagt hat, nämlich dass ihr Verlobter seinen Herrn nicht ausstehen kann, dann könnte der Bursche bereit sein, ein wenig zu plaudern.
16
Alessandro beugte sich schnaufend über den Frühstückstisch, um der Contessa Kaffee nachzuschenken. Die Kaffeekanne war aus Silber, ebenso das Tablett auf dem Tisch und der aufwendig gearbeitete Brotkorb, in dem drei steinharte Brötchen lagen. Silbernes Geschirr zu verkaufen lohnte sich nicht. Der venezianische Markt war damit völlig übersättigt. Tron hatte es noch nicht einmal versucht.
«Meinst du nicht, dass Signor Widman übertreibt, Alvise?» Das schmale Gesicht der Contessa wirkte gereizt. Aus ihrer halb zum Mund geführten Kaffeetasse stieg Dampf auf wie Rauch aus einer Opferschale. Der Kaffee, der aus Sparsamkeitsgründen immer mehrmals aufgebrüht wurde, war heiß und wirkte der Kälte entgegen, die aus dem eisigen Terrazzofußboden in die Beine kroch – besonders wenn man ihn aufhübschte, wozu die Contessa vorzugsweise Grappa verwandte. «Was genau hat er denn gesagt?»
«Dass es seit Sonntagnacht mehr als nur tropft. Was offensichtlich zutrifft, die ganze Zimmerdecke war feucht.»
«Und jetzt?»
«Signor Widman sagt, dass er sich um das Dach kümmern kann. Nur will er bezahlt werden.»
Die Contessa runzelte die Stirn. «Um welche Summe geht es?»
«Um ungefähr den Betrag, den wir in diesem Jahr
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