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Schnee in Venedig

Schnee in Venedig

Titel: Schnee in Venedig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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für Lohndiener und Musiker ausgeben», sagte Tron. Der Satz war kaum heraus, da bereute er ihn schon.
    Die Contessa sah ihn nicht an. Ihr Blick wanderte über die fleckige Brokatbespannung der Wände, blieb an der zerschlissenen Polsterung der Fauteuils hängen und strich dann langsam über die Risse in der Decke des Salons. Alssie sprach, erschrak Tron über die Resignation in ihrer Stimme. «Dieser Palazzo frisst uns auf, Alvise.»
    Tron seufzte. «Wir werden irgendwann die Hauptetage vermieten müssen. Das machen inzwischen fast alle.»
    «Und mein Maskenball?» Die Stimme der Contessa klang eher traurig als feindselig.
    «Dann vermieten wir nur im Sommer.»
    Die Contessa wischte Trons Vorschlag mit einer müden Handbewegung vom Tisch. «Was ist mit dem Tintoretto, den Alessandro gestern zu Sivry gebracht hat?»
    «Ich gehe auf dem Weg zur Questura bei Sivry vorbei.»
    «Wird das Geld für das Dach reichen?»
    «Meine Leute haben Widmans Sohn im
Café Florian
mit einer Turiner Zeitung erwischt. Ich müsste ihn vorladen, aber ich kann auch dafür sorgen, dass die Angelegenheit fallen gelassen wird. Dafür arbeitet Widman vermutlich für einen Preis, den wir verkraften können.» Tron versuchte zu lächeln.
    «Wann gehst du?»
    «Gleich nach dem Frühstück.»
    Die Contessa drehte den Kopf und warf einen flüchtigen Blick auf den bleiernen Himmel hinter dem Fenster. «Falls es wieder anfängt zu schneien», sagte sie, «setz deine Strickmütze unter dem Zylinderhut auf. Sonst erkältest du dich und musst am Sonnabend das Bett hüten.» Sie ergriff ihr Brötchen und tauchte es entschlossen in ihren Kaffee – mit dem Gesichtsausdruck einer Frau, die vor nichts mehr zurückschreckt.
     
    Aber als Tron eine halbe Stunde später den Palazzo verließ, hatte es überraschend aufgeklart. Normalerweise hätte er den Weg über den Rialto eingeschlagen, doch verführt von dem unerwartet schönen Wetter, wandte er sich am CampoSan Cassiano nach Süden. Zehn Minuten später stand er vor der Frari-Kirche – ein wichtiges Bauwerk für die Trons, denn sie enthielt das Grabmal Niccolò Trons, des einzigen Dogen, den die Familie Tron in ihrer Ahnenreihe vorweisen konnte.
    Für Tron verbanden sich mit der Frari-Kirche die frühesten Kindheitserinnerungen: wie er an der Hand seines Vaters vor dem Grabmal des Dogen stand und dem Vortrag des Vaters über die vergangene Größe des Hauses Tron lauschte. Anscheinend hatten sie die Kirche immer im Sommer besucht, denn seine Erinnerungen waren mit lastender Hitze verknüpft und der wohltuenden Empfindung der Kühle, die in dem großen Kirchenschiff auch im Hochsommer herrschte. Gewöhnlich pflegte sich Trons Vater nach dem Besuch der Kirche in einer kleinen
locanda
gegenüber der Südfassade ein Glas Wein zu genehmigen, und Tron stellte gerührt fest, dass es die
locanda
immer noch gab. Wie lange war das jetzt her? Auf jeden Fall über vierzig Jahre, länger als ein halbes Leben   – Jahrzehnte, in denen die Stadt langsam dem Verfall anheim gefallen war, während sie zugleich durch die Erfindung der Eisenbahn und des Dampfschiffes leichter erreichbar geworden war als jemals zuvor.
    Die schwere Tür an der Südfassade fiel krachend hinter ihm ins Schloss, als Tron die Kirche betrat. Der Tür, dachte Tron, waren die Tizians und Bellinis in der Kirche genauso gleichgültig wie dem Kirchendiener. Der hob bei Trons Eintreten nicht einmal den Kopf, sondern fuhr ungerührt fort, den Schmutz von einem Teil der Kirche in den anderen zu fegen.
    Der Gottesdienst war vor einer halben Stunde zu Ende gegangen, und die einzigen Besucher waren eine kleine Gruppe von Fremden, die sich vor dem Hochaltar versammelthatten, um die
Assunta
Tizians zu bewundern, und ein einzelner Mann, der, nur wenige Schritte von der Gruppe entfernt, direkt vor dem Grabmal Niccolò Trons stand. Tron wartete ein paar Minuten, doch als der Mann keine Anstalten machte, sich von der Stelle zu rühren, trat er neben ihn.
    1476 erbaut, füllte das Grabmal den unteren Teil der Wandfläche der Apsis vollständig aus. Niccolò Tron war einmal liegend zu sehen, in Marmor gehauen, hoch über Trons Kopf auf seinem Sarkophag. Weiter unten stand er auf zwei Beinen, ein würdiger älterer Herr in der Amtstracht der Dogen – dessen Anblick allerdings nach kurzer Zeit ermüdete, sodass der Blick des Betrachters weiterschweifte zu einer der allegorischen Damen an seiner Seite: In ein hauchdünnes, «nasses» Gewand gekleidet, das ihren

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