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Schnee in Venedig

Schnee in Venedig

Titel: Schnee in Venedig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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Körper fast unverhüllt zeigte, schien sie nach einem lebendigen Modell gearbeitet worden zu sein. Tron hatte sich immer gefragt, wer das unbekannte Mädchen gewesen sein mochte, das den Betrachter vierhundert Jahre später immer noch entzückte.
    Offenbar hatte der Mann ihn nicht bemerkt, jedenfalls trat er plötzlich zur Seite und stieß mit Tron zusammen. Zwei schwarze Zylinderhüte fielen auf den Boden. Tron und der Mann bückten sich gleichzeitig, um ihre Hüte wieder aufzuheben.
    «Entschuldigen Sie», sagte Tron.
    «Oh, es war meine Schuld», erwiderte der Mann höflich. Er deutete eine kleine Verbeugung an. Dann trat er einen Schritt zurück und sagte: «Ich mag die Caritas auf der linken Seite des Dogen.»
    Tron hatte bei dieser Bemerkung ein anzügliches Lächeln auf dem Gesicht des Mannes erwartet, ein Augenzwinkern unter Männern, aber in dem Gesicht des Mannes war keine Spur davon zu entdecken. Davon angenehm berührt,sagte Tron: «Wahrscheinlich hat Antonio Rizzo für die Figur der Eva im Dogenpalast dasselbe Modell benutzt.»
    «Sie meinen die Eva am Arco Foscari?»
    Tron nickte. Offenbar kannte sich der Mann in Venedig aus. Er hielt auch keinen Reiseführer in der Hand, sondern lediglich seinen Zylinderhut und einen Spazierstock.
    «Weiß man, wer diese Frau gewesen ist?», erkundigte er sich.
    Tron hob bedauernd die Schultern. «Über Rizzos persönliche Verhältnisse ist kaum etwas bekannt.» Ihm jedenfalls nicht.
    Tron schätzte den Mann auf Ende vierzig, nicht ganz so jung, wie er im ersten Moment angenommen hatte – wahrscheinlich hatte er sich durch die helle Stimme und das dichte schwarze Haar, das noch keine Spur von Grau aufwies, täuschen lassen. Hoch gewachsen und schlank, sah der Mann in seinem gut geschnittenen Gehrock und seinem lässig über die Schultern gehängten Gehpelz ausgesprochen elegant aus. Sein Mund war schmal, mit Lippen, deren Winkel aufwärts gebogen waren, was darauf schließen ließ, dass er gern lachte. Im Knopfloch seines Gehrocks prangte eine weiße Nelke, die ihm einen Einschlag ins Extravagante gab. Tron wusste, dass man auch im Winter in Venedig frische Blumen bekommen konnte – jedenfalls wenn man über die nötigen Mittel verfügte. Seinem Akzent nach kam der Mann aus Österreich oder Süddeutschland. Sein Italienisch war fließend.
    «Sind Sie von hier?» Der Fremde lächelte höflich, als müsste er sich für diese indiskrete Frage entschuldigen.
    Tron gab sein Lächeln zurück. «Ich bin von hier.»
    Der Mann drehte seinen Kopf zur Seite und ließ seinen Blick kurz über die
Assunta
schweifen. «Ohne Frage einPrivileg», sagte er. Tron klassifizierte ihn vorläufig als wohlhabenden Privatgelehrten.
    «Beschäftigen Sie sich mit Kunst?», erkundigte sich Tron.
    Der Fremde schüttelte den Kopf. «Mit Gas.»
    «Wie bitte?»
    «Mit der Erweiterung des Rohrnetzes», erklärte der Fremde. «Wir wollen das Gas auf die andere Seite des Canal Grande bringen.»
    «Wer ist wir?»
    «Die
Imperial Continental Gas Association.
Ich bin der Direktor der Wiener Niederlassung.»
    «Die englische Gesellschaft, die den Gasometer bei San Francesca della Vigna gebaut hat und die Gasbeleuchtung auf dem Markusplatz installiert hat?», fragte Tron.
    «Die seit zwanzig Jahren Wien beleuchtet und ein paar Dutzend andere europäische Städte ebenfalls», ergänzte der Mann stolz.
    «Wofür braucht man auf der anderen Seite des Canal Grande Gas?», wollte Tron wissen.
    «Für die Straßenbeleuchtung, Signore.»
    «Die Bürger Venedigs sind zufrieden mit dem, was sie haben.»
    «Mit Ölfunzeln vor den Schreinen der Heiligen Jungfrau an den Straßenecken?» Der Fremde machte ein entsetztes Gesicht.
    «Den Leuten reicht das.»
    «Und der Fortschritt?»
    Tron brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass der Fremde es vollkommen ernst meinte. Ein Irrer, entschied Tron, aber trotzdem sympathisch. Immerhin hatte der Mann andächtig vor dem Grabmal Niccolò Trons gestanden.
    «Vor hundert Jahren», sagte Tron schärfer als beabsichtigt, «war Venedig noch eine blühende Stadt. Da gab es keineDampfschiffe, keine Eisenbahnen, keine Telegraphen und auch kein Gaslicht.» Dann fügte er in konziliantem Ton hinzu: «Vermutlich wohnen Sie im
Danieli
und freuen sich jeden Tag über die Gasbeleuchtung, die Ihre Gesellschaft dort installiert hat.»
    Der Fremde schüttelte den Kopf. «Ich wohne im Palazzo da Mosto.»
    «Ich dachte, der Palazzo da Mosto steht leer.»
    «Im Moment jedenfalls nicht»,

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