Schnee in Venedig
aufeinander, denkt Elisabeth, wie bei einer schlecht koordinierten Verabredung, bei der die eine Person im Café Florian sitzt, die andere im Café Quadri.
Das Arbeitszimmer des Kaisers dient zugleich als Audienzzimmer, denn es ist groß genug, um die Eintretenden ein paar Sekunden marschieren zu lassen, bevor sie den Weg zum Schreibtisch des Kaisers zurückgelegt haben – Sekunden, in denen ihnen die Macht des Allerhöchsten deutlich werden soll, speziell wenn der Kaiser nicht geruht, von seinen Akten aufzusehen, ja er noch nicht einmal zu erkennen gibt, dass er den Besuch, der vor ihm steht, registriert hat. Dann muss man warten, bis Franz Joseph den Blick hebt.
Das kann er gut, denkt Elisabeth. Es soll Leute geben, die zehn Minuten vor dem Schreibtisch des Kaisers gestanden haben, und dann hat er sie nicht einmal angesehen, als er mit ihnen gesprochen hat. Das ist seine allerneueste Masche.Er sieht Leuten, die er verabscheut, nicht in die Augen, sondern starrt ihnen hartnäckig auf den Kragen, so als wäre dort ein monströser Fleck.
Elisabeth wird den Stadtkommandanten zehn Minuten vor dem kaiserlichen Schreibtisch warten lassen. Außerdem wird Toggenburg eine halbe Stunde im Vorzimmer sitzen, bevor man ihn vorlässt. Das ist eine Variante, die der Kaiser nicht praktiziert, aber es gibt nichts, was man nicht noch verbessern könnte.
Elisabeth trägt ein Kleid aus schwarzem Chiffon mit einem hochgestellten, aus Spitzen gearbeiteten Kragen. Das Kleid macht sie älter, aber genau so will sie es haben. Sie ist fünfundzwanzig, aber im Moment legt sie keinen Wert darauf, auch so jung auszusehen.
Wie verabredet öffnen sich um halb zwölf die Flügeltüren des kaiserlichen Arbeitszimmers, und am oberen Rand ihres Gesichtsfeldes erscheint etwas Hellblaues, das größer wird und sich langsam nähert. Elisabeth blickt nicht auf, sie hört nur, wie Toggenburg den Weg zu ihrem Schreibtisch einschlägt und schließlich respektvoll stehen bleibt. Zweifellos erwartet er von ihr, dass sie das Wort an ihn richten wird.
Aber sie ist immer noch mit gerunzelter Stirn in das Studium eines dünnen Aktenkonvolutes vertieft, das auf dem kaiserlichen Schreibtisch zurückgeblieben ist. Sie stellt fest, dass es sich – in gestochener Kanzleischrift geschrieben – um eine Verordnung über die Tierkadaverbeseitigung im Landkreis Bozen handelt – interessant insofern, als diese Akte bestätigt, dass der Kaiser sich tatsächlich um die lächerlichsten Kleinigkeiten persönlich kümmert, was er ihr gegenüber immer abstreitet.
«… ist insbesondere Wert darauf zu legen, dass speziell die Innereien der befallenen Tiere einer gesonderten Entsorgung zugeführt werden, um die
Gefahr der Ausbreitung von …»,
liest sie, bevor sie angewidert abbricht und, viel früher als ursprünglich geplant, zu Toggenburg sagt:
«Es tut mir Leid, dass Sie warten mussten, Herr General.»
Sie lehnt sich in ihrem Sessel zurück und begeht den zweiten Fehler. Ihr Blick sollte an Toggenburgs Kragenspiegel hängen bleiben, doch stattdessen rutscht er höher und landet unversehens in seinen Augen. Eigenartigerweise nimmt sie weder Erregung noch Ungeduld wahr. Toggenburgs Gesicht ist glatt, nicht einmal die Augenbrauen sind emporgezogen.
Der Stadtkommandant steht vor ihr wie ein herrschaftlicher Diener, den Oberkörper leicht nach vorne geneigt, auf den Lippen ein höfliches Lächeln. Er trägt die hellblaue Generalsuniform der Kaiserjäger und hat seine Orden angelegt. Elisabeth erkennt den Kronenorden in Gold, das Ritterkreuz des Leopoldordens und den Maria-Theresia-Orden. Toggenburg ist ein hagerer Mann um die sechzig mit zurückweichenden, fast weißen Haaren. Sein Schnurrbart ist dicht und kräftig, mit Spitzen, die buschig nach oben zeigen.
«Nehmen Sie Platz, Herr General.»
Toggenburg schlägt die Hacken zusammen. Er salutiert, indem er seine rechte Hand zur Schläfe schnellen lässt, und nimmt Platz. Jetzt sitzt er in militärischer Haltung auf der Stuhlkante und zupft seine Handschuhe von den Fingern.
«Sie wissen, weshalb ich Sie hergebeten habe, Herr General?»
«Kaiserliche Hoheit vermissen Ihre Post.»
«Was ist mit meiner Post passiert? Die Gräfin Königsegg sprach von einem Zwischenfall.»
Toggenburg hebt sein Kinn. «Es hat tatsächlich einen Zwischenfall gegeben. Hofrat Baron Hummelhauser, derdie Briefschaften Seiner Kaiserlichen Hoheit in seiner Kabine hatte, ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Er ist in seiner Kabine
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