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Schnee in Venedig

Schnee in Venedig

Titel: Schnee in Venedig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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Tintoretto, den Alessandro ihm gestern gebracht hatte, um eine Kopie handelte. Wahrscheinlich, vermutete Tron, war es Sivry im Grunde egal, ob das Gemälde ein Original war oder nicht. Es reichte, dass das Porträt Almorò Trons extrem tintorettomäßig aussah: der diffuse Schatten unter der Nase, der mehlige Bart, der geraffte Vorhang im Hintergrund, die wie tote Fische herabhängenden Hände, das übliche Schafsgesicht. Es war ein Porträt, das auch ein Laie sofort als Tintoretto identifiziert hätte, undsomit hervorragend für einen Verkauf an wohlhabende Fremde geeignet. Dass die Kopie, für die eine alte Leinwand verwandt worden war, erstklassige Qualität besaß, verstand sich von selbst.
    Als Tron die Tür zu Sivrys Laden aufstieß, schlug im rückwärtigen Teil des Geschäfts, irgendwo hinter einem dunkelroten Brokatvorhang, eine Glocke an. Wie immer, wenn Tron Sivrys Geschäftsräume betrat, bewunderte er die gediegene Eleganz, die jeder Gegenstand und jedes Möbelstück dort ausstrahlte. Die Möbel im Palazzo Tron stammten ebenfalls zum großen Teil aus dem letzten Jahrhundert, aber während sie im Salon seiner Mutter von Jahr zu Jahr schäbiger aussahen, hatten sie hier – obgleich sie ihr Alter nicht verleugneten – den satten Glanz, den ihnen offenbar nur gute Geschäfte und solider Wohlstand verleihen konnten. Tron verstand, weshalb ein bestimmter Kundenkreis sich in Sivrys Geschäftsräumen wohl fühlte und vertrauensvoll bei ihm kaufte. Der Mann, sagten sich Sivrys Kunden, hatte es gar nicht nötig, sie zu betrügen.
    Am Vorhang erschien eine beringte Hand und schob den Stoff beiseite. Wie üblich hatte Sivry einen Hauch Rouge auf den Wangen verteilt und verströmte einen diskreten Veilchenduft.
    «Conte Tron!» Sivry streckte ihm die Hand entgegen und strahlte über das ganze Gesicht. Tron wusste, dass Sivry sich ehrlich freute, ihn zu sehen.
    «Was war auf der Piazza los?» Tron waren vor dem Café Quadri ein Dutzend Offiziere aufgefallen, die aufgeregt miteinander geredet hatten.
    «Die Kaiserin war auf der Piazza», sagte Sivry. Seine Miene verdüsterte sich.
    «Sie ist täglich auf der Piazza, und niemand beachtet sie», sagte Tron.
    «Aber heute war sie in Begleitung der halben kaiserlichen Armee unterwegs. Irgendjemand hat offenbar entschieden, dass die Kaiserin besser bewacht werden muss. Sie haben Schlagstöcke benutzt, wenn die Leute nicht schnell genug Platz machten.» Sivry schüttelte entsetzt den Kopf. «Als es mit den Rufen losging, ist die Kaiserin wieder in den Palazzo Reale geflüchtet.»
    «Was für Rufe?»
    «Hochrufe auf Verdi», sagte Sivry erschaudernd. «Einfach geschmacklos.» Himmel, Sivrys Stimme wurde richtig scharf. War der Franzose ein verkappter Monarchist?
    Tron fragte: «Sind Sie der Kaiserin jemals persönlich begegnet?»
    Sivry lächelte verklärt. «Die Kaiserin hat vor drei Wochen mein Geschäft besucht. In Begleitung einer Dame und eines Herrn. Sie hat meine Fotografien durchgeblättert.»
    Er zeigte auf einen großen Tisch, der an der Rückwand des Ladens stand. Wo früher Kupferstiche mit Ansichten der Serenissima auslagen, stapelten sich jetzt Fotografien. «Ich hatte Kundschaft, aber die Kaiserin bestand darauf zu warten.»
    «Seit wann verkaufen Sie Fotografien?», fragte Tron. Erst jetzt fiel ihm auf, dass über dem großen Tisch zwei kolorierte Fotografien hingen: die eines Fischermädchens, dessen Kleid über die linke Schulter gerutscht war, und die eines Gondoliere, der eine Mandoline in der Hand hielt.
    Sivry lächelte entschuldigend. «Ich muss mit der Zeit gehen, sonst kann ich mein Geschäft schließen.»
    «Hat sich jemand für den Tintoretto interessiert?»
    Sivry senkte traurig den Kopf. «Leider noch nicht.» Er dachte einen Moment lang nach. Dann sagte er: «Dieses Porträt ist ein wenig zu prägnant. Nichts für den Geschmack der breiten Masse.»
    Tron hatte beim Abhängen des Bildes bereits festgestellt, dass das Porträt bei gutem Licht noch furchterregender aussah als in der Dämmerung des grünen Salons. Almorò Trons dunkelbraune Staatsrobe war voller grünlicher Flecken, und der Prokurator hielt etwas in der Hand, das wie eine große Bürste aussah. Außerdem stellte man fest, dass der Prokurator schielte, wenn man genau hinsah.
    «Was können Sie zahlen?», fragte Tron.
    Sivry machte ein sorgenvolles Gesicht. «Höchstens vierhundert.»
    «Sechshundert, und ich gebe Ihnen eine Quittung über siebenhundertfünfzig», sagte

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