Schnee in Venedig
– oder senkt respektvoll die Augen. Offiziere grüßen sie, indem sie die Hand an ihre Kopfbedeckung legen, manche Herren lüften den Zylinder und deuten eine Verbeugung an. In Wien wäre das undenkbar, einfach ein paar Schritte vor die Tür zu gehen – es würde sofort ein Auflauf entstehen, und außerdem gehört es sich nicht.
Zehn Schritte weiter fragt sie sich, warum sie nicht sofort bemerkt hat, was los ist, denn eigentlich sind die Soldaten auf dem oberen Umgang der Basilika ebenso wenig zu übersehen wie die Herren in den schwarzen Gehröcken, die mit kräftigen Spazierstöcken bewaffnet sind und allesamt graue Zylinder tragen – Elisabeth schätzt, dass es sich um mindestens sechzig Männer handelt. Sie haben einen Sperrbezirk um sie gebildet, der mit jedem ihrer Schritte vorrückt, die Menschen auf der Piazza wegschiebt und seitlich abdrängt, sodass langsam ein leerer Raum um sie und ihr Gefolge entsteht.
Die Choreographie der militärischen Aufführung ist perfekt. Alle Bewegungen in diesem Ballett der Zylinderträger erreichen mühelos ihren Zweck: ein menschenleeres Oval um sie zu ziehen, auf dem sie die Piazza überquert wie auf einer Bühne. Elisabeth, die inzwischen vermeidet, etwas anderes anzusehen als das Pflaster vor ihren Füßen, kommt trotzdem nicht umhin festzustellen, dass die emsige Bewegung, die vor ihrer Ankunft auf der Piazza geherrscht hat, einem angespannten Stillstand gewichen ist. Wer eben noch damit beschäftigt war, Tauben zu füttern oder sich fotografierenzu lassen, widmet sich jetzt der Beobachtung der Kaiserin – Italiener, Fremde und Angehörige der in Venedig stationierten Waffengattungen haben eine zwei, drei Reihen tiefe Arena um sie gebildet, aus der jetzt mehrere hundert Augenpaare auf sie gerichtet sind.
Die Rufe setzen ein, nachdem Elisabeth sich umgedreht und langsam (sonst sieht es nach Flucht aus) den Rückweg angetreten hat. Zuerst hört sie nur eine einzelne Stimme. Dann kommen weitere dazu, und schließlich rufen viele Stimmen immer lauter und schneller etwas Viersilbiges, das Elisabeth erst versteht, als auch die Fremden mitschreien, vermutlich weil sie glauben, Giuseppe Verdi sei irgendwo auf der Piazza. Die Menge ruft
Viva Verdi
, aber niemand muss Elisabeth sagen, dass nicht Giuseppe Verdi gemeint ist, sondern das Akronym
VERDI
, das für Vittorio Emanuele Re D’Italia steht.
18
Der Kunsthändler Alphonse de Sivry war Anfang der fünfziger Jahre in Venedig aufgetaucht – ein rundlicher, an ein Marzipanschwein erinnernder Franzose, der ein stark französisch gefärbtes
Veneziano
sprach und seit sechs Jahren ein elegantes Ladengeschäft direkt am Markusplatz unterhielt. Spezialisiert auf Gemälde und Kupferstiche des
Settecento
, genoss er unter den vornehmen Fremden, die den Winter in Venedig verbrachten, bald einen guten Ruf – er verkaufte nur erste Namen, verlangte seriöse, nicht übermäßig hohe Preise und sorgte mit großer Zuverlässigkeit für den Transport der Gemälde in die jeweiligen Heimatländer.
Tron mochte ihn, denn zu den Annehmlichkeiten derGeschäftsbeziehung mit Sivry gehörte, dass der Kunsthändler es mit der Authentizität der Zeichnungen und Gemälde, die Tron ihm in regelmäßigen Abständen verkaufte, nicht sonderlich genau nahm.
Trons Vater hatte, bevor er in den dreißiger Jahren an der Cholera gestorben war, seine freie Zeit damit verbracht, mit erstaunlicher Meisterschaft Zeichnungen im Stil Giovanni Bellinis anzufertigen – auf Papier aus dem 16. Jahrhundert, das eines Tages in großen Mengen im Palazzo Tron aufgetaucht war. Dass Trons Vater zeitgenössisches Papier benutzt hatte, war reiner Zufall. Tron war sich sicher, dass sein Vater keinen Augenblick daran gedacht hatte, seine Zeichnungen zu verkaufen – schon gar nicht als Originale Giovanni Bellinis –, aber als Tron Sivry eine der Zeichnungen anbot, zeigte sich dieser sehr interessiert und kaufte ihm nach und nach das ganze Konvolut zu einem anständigen Preis ab. Der Name Giovanni Bellini war zwischen ihnen nie gefallen – doch Tron wusste, dass Sivry die Blätter für Originale hielt, und er konnte eine Summe fordern, die Sivry für die Zeichnungen eines unbekannten Freizeitmalers nie gezahlt hätte. Das Geschäft hatte sowohl Sivry als auch Tron zufrieden gestellt, und mit den Jahren war eine fast herzliche Beziehung zwischen dem Conte und dem Kunsthändler entstanden.
Tron fragte sich, ob Sivry wohl entdeckt hatte, dass es sich bei dem
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