Schnee in Venedig
nach dem großen Brand, der das Opernhaus 1836 vernichtet hatte. In der kaiserlichen Loge hatte ein bleicher, hagerer Mann gesessen, der das brausende
Vivat
der Offiziere, das ertönt war, als er die Loge betreten hatte, mit einem müden, fast peinlich berührten Lächeln quittiert hatte. Dass es zwölf Jahre später zu einem Aufstand der Venezianer kommen würde, hätte im Jahre 1837 niemand für möglich gehalten – und schon gar nicht, dass wiederum zwölf Jahre später die Einigung Italiens zum Greifen nahe war. Damals hatte Tron gedacht, dass die Österreicher ewig in Oberitalien bleiben würden. Inzwischen ging er wie alle Venezianer (und vermutlich auch die Österreicher selber) davon aus, dass die Tage der Herrschaft des Hauses Habsburg über das Veneto gezählt waren.
Kurz vor acht erschien Dr. Pastore, der Theaterarzt, um seinen Platz einzunehmen. Nachdem Tron ihn begrüßt hatte, stieg er langsam die Stufen zur Loge der Principessa hoch und dachte noch einmal darüber nach, was für Konsequenzen sich aus seinem Gespräch mit Spaur ergaben. Der Polizeipräsident hatte ihm unmissverständlich klar gemacht, dass der Fall abgeschlossen war. Andererseits zweifelte Tron nicht daran, dass Ballani die Wahrheit gesagt hatte, und dieVorstellung, dass ein Mörder und sein Auftraggeber ungestraft davonkommen würden, störte ihn gewaltig.
Aber was konnte er unternehmen? Sich über Spaur hinweg an den Stadtkommandanten wenden? Oder gleich direkt an das Hauptquartier in Verona? Tron spielte kurz mit diesem Gedanken, verwarf ihn dann aber sofort. Spaur hatte Recht. Es gab einfach keinen Beweis für die Geschichte Ballanis, und niemand würde einem arbeitslosen Cellisten, der von Männerbekanntschaften lebte (Tron hatte den Verdacht, dass der Hofrat nicht der einzige Freund Ballanis gewesen war), Glauben schenken.
Und die Principessa? Würde sie Ballanis Version glauben? Wahrscheinlich, sagte sich Tron. Die Principessa war davon überzeugt, dass Pellico nicht als Täter in Frage kam – folglich musste jemand anders die Tat begangen haben, und die Geschichte Ballanis hatte zumindest den Vorteil, dass sie die Eile erklärte, mit der Oberst Pergen die Ermittlungen an sich gerissen hatte. Aber woher stammte das merkwürdige Interesse der Principessa an diesem Fall? Was hatte sie dazu bewogen, ihn zu Palffy zu schicken? Aus welchem Grund hatte sie ihn in ihrem Palazzo empfangen und eine Einladung in ihre Loge ausgesprochen? War es lediglich der Wunsch, Pellico rehabilitiert zu sehen, dem sie offenbar enger verbunden war, als sie zugab? Doch von Pellicos Verstrickung in die Morde hatte die Principessa bei ihrer ersten Begegnung auf dem Schiff noch nichts gewusst. Ihr Drängen, die Ermittlungen fortzusetzen, musste also einen anderen Grund gehabt haben. Aber welchen?
Tron hatte inzwischen den zweiten Rang des Opernhauses erreicht und betrat den Gang, an dem die Loge der Principessa lag. Er warf einen letzten Blick in einen der großen Spiegel, die überall an den Wänden befestigt waren, und stellte fest, dass ihm der Frack seines Vaters besser passte,als er gedacht hatte. Zwar spannte der Stoff ein wenig an den Schultern, und auch die Breite der Revers entsprach nicht mehr dem letzten Stand der Mode, aber ansonsten war seine Erscheinung tadellos. Tron drückte die Klinke der Logentür nach unten, holte tief Luft und betrat die Loge der Principessa.
Sie drehte sich um, als er hereinkam, und einen Moment lang dachte Tron, er hätte sich in der Loge geirrt. Die Frau, die er im Halbdunkel des Gaslichts vor sich sah, schien auf den ersten Blick wenig mit der Frau gemein zu haben, die er bisher kannte – eine Frau, die ein eher sachliches Erscheinungsbild bevorzugte –, vermutlich, so begriff Tron jetzt, um nicht jeden Mann, dem sie begegnete, in äußerste Verwirrung zu stürzen. Dabei konnte man nicht einmal sagen, dass die Principessa für ihren Besuch im Fenice einen großen Aufwand betrieben hatte. Sie trug eine schlichte Krinoline aus mauvefarbener Seide, dazu lange, über die Ellenbogen reichende Handschuhe – einer wies koketterweise am Unterarm eine kleine Stopfstelle auf. Der Unterschied lag lediglich in der Art und Weise, wie sie ihre Haare heute Abend zurechtgemacht hatte. Sie waren hochgesteckt, gestatteten den Blick auf eine atemberaubende Nackenlinie und betonten ihr klassisches Botticelli-Profil.
Die Principessa, die sich ihrer Wirkung voll bewusst war, sah zu Tron auf. Ein Lächeln huschte über ihr
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