Schnee in Venedig
Obduktionsberichte für die Lloydfälle gelesen? Der Hofrat und das Mädchen?»
Tron schüttelte den Kopf. «Wir bearbeiten den Fall nicht mehr.»
Dr. Lionardo schlug sich mit drei Fingern auf die Stirn. «Ja, richtig. Der Bericht ging auch an Oberst Pergen. Hat er Ihnen nichts davon gesagt?»
«Was hätte er mir sagen sollen?»
«Dass die Schüsse
post mortem
abgegeben worden sind. Der Hofrat war tot, als man auf ihn geschossen hat. Ein völlig sinnloser Vorgang.» Er warf Tron einen missbilligendenBlick zu, als wäre Tron derjenige gewesen, der auf den Toten gefeuert hatte.
«Und die eigentliche Todesursache?»
Dr. Lionardo zuckte mit den Achseln.
«Vermutlich ein Herzinfarkt.»
30
«Sie haben Grillparzer laufen lassen, Commissario? Nachdem Sie ihn neben der Leiche erwischt haben?»
Spaur lehnte sich über seinen Schreibtisch und umklammerte nervös eine Schachtel Demel-Konfekt. Die Schachtel stand auf einem Venedig-Plan, in den er zusammen mit seinem Neffen Haslinger – dem Fackelträger des Fortschritts – vertieft gewesen war, als Tron sein Büro betreten hatte. Der Plan wies ein Netz von dicken schwarzen Linien auf, bei denen es sich vermutlich um die Rohrleitungen handelte, mit denen Haslinger die Venezianer beglücken wollte – ein Labyrinth aus schwarzen Strichen, das über einem Labyrinth aus Kanälen und Gassen lag.
Spaur hatte Trons Bericht mit wachsendem Unbehagen gelauscht – im Gegensatz zu Haslinger, der die Miene eines Mannes aufgesetzt hatte, dem eine spannende Schachpartie geboten wird. Tron konnte förmlich sehen, wie der Ingenieur die einzelnen Züge in seinem Gehirn speicherte und bewertete. Haslinger war eindeutig fasziniert. Wahrscheinlich bedauerte er bereits, dachte Tron, dass er den spannendsten Teil der Geschichte – die Nacht auf dem Raddampfer – einfach verschlafen hatte und sich jetzt mit den Brotkrumen zufrieden geben musste.
«Es wäre Ihre Pflicht gewesen», fuhr Spaur fort, «sofortdie Militärpolizei zu benachrichtigen. Wahrscheinlich wird Oberst Pergen davon erfahren. Und dann wird er mir …», Spaur griff entnervt in die Konfektschachtel, wickelte ein neues Stück aus und formte seine Worte um eine Marzipankugel: «Dieölleheißma.»
«Die Hölle heiß machen? Das bezweifle ich», sagte Tron. Er nickte Haslinger dankbar zu. Der hatte sich die Kühnheit erlaubt, die Konfektschachtel über den Tisch zu schieben und Tron auffordernd anzublicken. Offenbar wusste Haslinger nicht, dass sein Onkel grundsätzlich nichts von seinem Demel-Konfekt abgab.
«Und warum?» Spaurs Miene, die sich verdüstert hatte, hellte sich wieder auf, als Tron das Angebot Haslingers zurückwies.
«Pergen hat in seinem Bericht das Obduktionsergebnis unterschlagen. Wenn der Hofrat an einem Herzanfall gestorben ist, war es kein Mord», sagte Tron.
Haslinger beugte sich über den Tisch. «Aber das Obduktionsergebnis lässt keinen Rückschluss auf die Person des Schützen zu. Es könnte also durchaus Pellico gewesen sein, der auf den Hofrat gefeuert hat.»
«Das Attentat war eine Erfindung Pergens – warum sollte Pellico auf den Hofrat gefeuert haben?»
Haslinger dachte einen Moment nach. Dann sagte er: «Es mag ja sein, dass der Hofrat Papiere an Bord hatte, die den Oberst in Schwierigkeiten gebracht hätten.» Er richtete den Blick auf seinen Finger, der über den Stadtplan strich und einer Rohrleitung folgte, die den Palazzo Tron, wie Tron irritiert bemerkte, in zwei Teile zerschnitt. «Aber wer sagt», fuhr Haslinger fort, «dass es die einzigen Unterlagen waren, die der Hofrat in seiner Kabine hatte?»
Spaurs Augenbrauen zogen sich in die Höhe. «Du meinst, der Hofrat hatte nicht nur Unterlagen an Bord, die diesenProzess betrafen, sondern auch Dokumente über das geplante Attentat?»
Haslinger nickte. «Ich sehe nicht, warum das eine das andere ausschließen sollte.»
«Das würde bedeuten, dass der Bericht Pergens im Wesentlichen korrekt ist», sagte Spaur. «Wenn das Obduktionsergebnis keine Rückschlüsse auf die Person des Täters zulässt, könnte der Schütze ebenso gut Pellico gewesen sein.»
«Aber nicht der Mörder des Mädchens. Jedenfalls nicht, wenn man davon ausgeht, dass derjenige, der Moosbrugger getötet hat, auch das Mädchen auf dem Gewissen hat», sagte Tron und fügte noch hinzu: «Wer immer das gewesen ist.»
Haslingers Kopf hob sich von dem Labyrinth der Gasleitungen, auf die er nachdenklich gestarrt hatte. Er sah Tron stirnrunzelnd an. «Und
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