Schnee in Venedig
Ennemoser – mit einer Unbefangenheit, über die Elisabeth immer noch staunt, als sie an einem der blank gescheuerten Tische des
Paillo Gioccolante
– so heißt die Trattoria – Platz nimmt. Die Königseggs sind verabredungsgemäß ein paar Minuten später eingetroffen. Jetzt sitzen sie am Nebentisch. Sie studieren die Speisekarte, einen schmierigen Zettel, der ihre Mienen verdüstert.
Allerdings, muss Elisabeth zugeben, ist die Gaststätte eine Enttäuschung. Das Einzige, was ihren Erwartungen entspricht, sind die Sägespäne auf dem Fußboden und die blank gescheuerten Tische. Ansonsten ist der
Paillo Gioccolante
eine Trattoria ohne Fischnetzdekorationen, Gondolieri und Mandolinenklänge, ein Lokal ohne jede Atmosphäre, das ebenso gut eine Bahnhofsgaststätte sein könnte. Der Gastraum enthält ein Dutzend Tische, an denen momentan höchstens zehn Gäste sitzen, Einheimische, vermutlich Leute aus der Umgebung. Fremde verschlägt es selten in diesen Teil Venedigs.
Ennemoser hat Kutteln für sich und die Wastl kommen lassen. Die Frage nach heißer Schokolade, von Ennemoser gestellt, denn Elisabeth spricht kaum Italienisch, hat nur ein bedauerndes Achselzucken bei dem Kellner ausgelöst. Also hat Elisabeth einen Teller Brühe bestellt – mit ihren Wattekugeln im Mund kann sie nur flüssige Nahrung zu sich nehmen.
Sie schätzt, dass Ennemoser höchstens dreißig ist. Er hat dunkelblonde Haare, einen Schnurrbart und braune, intelligente Augen, mit hellen Wimpern unter ebenso hellen Augenbrauen – eine angenehme Person mit einem freundlichen, offenen Gesicht, das man nur deshalb nicht als «gut geschnitten» bezeichnen würde, weil die Nase ein wenig zu kurz und der Mund ein wenig zu herzförmig ist.
Eigentlich hat Elisabeth erwartet, dass Ennemoser sie, nachdem das Essen serviert worden ist, bitten würde, ihre Fragen zu stellen, aber Ennemoser hat sich erst einmal über seine Kutteln hergemacht, was Elisabeth begrüßt, denn auch sie hat es inzwischen nicht mehr eilig. Tatsächlich beginnt sie diesen Ausflug, unabhängig von dem Zweck, den er erfüllen soll, zu genießen.
Erstens schmeckt die Brühe ausgezeichnet (ob sie die Königsegg nachher in die Küche schicken soll, um nach dem Rezept zu fragen?), und zweitens hat sie ihr Urteil über dieses Lokal revidiert. Der Vergleich mit einer Bahnhofsgaststätte ist schon insofern falsch, als das Publikum hier einen völlig anderen Zuschnitt hat. In der letzten halben Stunde ist das Lokal deutlich voller geworden, und es hat sich eine Mischung zwischen einfachem Volk und Boheme ergeben, die Elisabeth entzückt.
Der hagere Jüngling, der in Elisabeths Blickrichtung sitzt und wie im Fieber einen Bogen Papier voll schreibt, ist ein Dichter. Das sieht Elisabeth sofort. Sie erkennt es an der schwarzen Locke, die ihm in die bleiche Stirn fällt, und an seinem grüblerischen Blick, den er bisweilen an die Decke richtet, so als würde er ein seltenes Wort suchen. Und der Bursche, der soeben die Gaststätte betreten hat, kann nur ein waschechter Gondoliere sein. Elisabeth sieht es an dem kühnen Blick, mit dem er die Anwesenden mustert, und an seinem Strohhut mit dem flotten Band, das um die Krone flattert. Auch zwei knorrige Fischer mit kantigen, wettergegerbten Gesichtern haben sich eingestellt. Sie haben an einem Tisch neben dem Eingang Platz genommen, knuffige Stummelpfeifen entzündet und spielen jetzt, mit Händen, die vor ein paar Stunden noch schwere Netze eingebracht haben, eine Partie Domino.
Ennemosers Teller ist fast geleert, sein Hunger gestillt,und so kann er sich jetzt dem eigentlichen Zweck dieses Treffens widmen, der Beantwortung ihrer Fragen. Ein selbstbewusster Mann, denkt Elisabeth. Ihr gefällt der völlige Mangel an Beflissenheit im Verhalten Ennemosers – für ihn ist sie immerhin eine Gräfin Hohenembs. Fast bedauert sie, dass sie gezwungen ist, diesen Mann zu täuschen.
«Sie wollten mich wegen des Lloydfalles sprechen?»
Ennemoser redet laut genug für Elisabeth, aber so leise, dass man ihn bereits am Nebentisch nicht mehr verstehen kann. Mit dem Rücken zur Wand kann er aus der Ecke des großen Gastraums sämtliche anderen Tische übersehen, und Elisabeth begreift, dass er sich nicht zufällig dorthin gesetzt hat.
«Es gibt gute Gründe», sagt Elisabeth etwas steif, weil sie nicht weiß, welchen Ton sie anschlagen soll, «die offiziellen Informationen über diesen Fall durch ein paar zusätzliche Details zu ergänzen.»
«Woran, wenn
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