Schnee in Venedig
der Fundort der Leiche? Ist das kein Hinweis? Nur Leutnant Grillparzer wusste, dass es eine unverschlossene Kabine gab, in der ein Toter lag.»
«Eben weil die Kabinentür nicht verschlossen war, könnte sie sich während des Sturms zufällig geöffnet haben», sagte Tron.
«Was der Mörder, der gerade dabei war, die Leiche des Mädchens loszuwerden, zufällig bemerkt hat.» Spaurs sarkastischer Tonfall signalisierte, dass er Trons Überlegung für abwegig hielt. «Ist es das, was Sie sagen wollen?»
Tron nickte. «So ungefähr.»
«Also stößt jemand, der eine Leiche loswerden will, rein zufällig auf eine offen stehende Kabine, in der zufällig eine andere Leiche liegt?» Spaur schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück. «Es tut mir Leid, Commissario. Für meinen Geschmack sind das zu viele Zufälle.»
«Gut – aber wenn Grillparzer der Mörder des Mädchens wäre, dann hätte er mir kaum von Moosbruggers Kundenliste berichtet», wandte Tron ein.
«Vielleicht hat er es getan, weil …» Spaur verstummte und durchbohrte Tron mit einem Blick, der so schwarz war wie das Stück Bitterschokolade, das er gerade auswickelte.
Haslinger lächelte. «Vielleicht weil Grillparzer wusste, dass er nicht auf dieser Liste stand.» Er faltete raschelnd den Venedig-Plan mit den Gasleitungen zusammen. «Werden Sie nach Triest fahren, Commissario? Zu dieser Adresse, die Ihnen der Leutnant genannt hat?»
Das war die entscheidende Frage, und Tron war Haslinger dankbar, dass er sie gestellt hatte.
«Das hängt nicht von mir ab.» Tron wedelte mit der Hand auf die andere Seite des Schreibtisches, an der Spaur saß.
«Die Frage ist», sagte Spaur nachdenklich, «ob das überhaupt unser Fall ist. Moosbrugger war Lloydsteward. Unter gewissen Umständen gilt das Lloydpersonal als Teil der Marine. Und dann ermittelt die Militärpolizei.»
«Welche Umstände?»
«Krieg. Oder kriegsähnliche Situationen. Und Pergen könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass eine solche Situation vorliegt.»
«Wegen des Attentats?»
Spaur nickte.
«Also könnte Pergen den Fall für sich reklamieren», sagte Tron.
«So ist es. Andererseits …» Spaur überlegte. «Wie lange hat Moosbrugger dieses Geschäft betrieben?»
Tron zuckte die Achseln. «Seit drei Jahren arbeitete er auf der
Erzherzog Sigmund
.»
«Glauben Sie, dass diese Kundenliste tatsächlich existiert?»
Tron nickte. «Sie waren der Erste, der mir davon erzählt hat.»
«Ich habe lediglich ein Gerücht wiedergegeben», sagte Spaur. «Aber wenn diese Liste tatsächlich existiert, dürfte sie eine interessante Lektüre abgeben. Ich frage mich, ob Toggenburg auch darauf steht.» Spaur fixierte eine Minute lang die Decke. Dann sagte er: «Vielleicht sollten Sie eine Triest-Reise ins Auge fassen, Commissario. Eine
private
Reise. Besuchen Sie Commissario Spadeni und bringen Sie unser Problem zur Sprache. Er soll dieser Adresse einen Besuch abstatten. Die Wohnung ein wenig näher betrachten.»
«Durchsuchen?»
«Und zwar gründlich. Begleiten Sie Spadeni bei diesem Besuch.»
«Und wenn wir die Aufzeichnungen finden?»
«Dann bringen Sie sie mit.»
«Spadeni könnte sich weigern, mir die Aufzeichnungen zu überlassen.»
Spaur fegte Trons Einwand vom Tisch. «Das wird er nicht. Spadeni ist mir einen Gefallen schuldig. Nehmen Sie den Dampfer, der heute Nacht ablegt. Dann sind Sie morgen wieder zurück. Wann findet dieser Maskenball statt, über den alle Welt redet?»
«Am Sonnabend.»
«Dann passt ja alles wunderbar», entschied Spaur.
«Heute Abend fährt die
Erzherzog Sigmund
», sagte Haslinger erfreut. «Und morgen nehmen wir die
Prinzessin Gisela
.» Er warf Tron einen strahlenden Blick zu.
Spaur wandte sich überrascht seinem Neffen zu. «
Wir?
Fährst du auch?»
«Ich muss nach Triest», sagte Haslinger. «Ich dachte, das wusstest du.»
Spaur schüttelte den Kopf. «Nein. Wusste ich nicht. Aber umso besser. Dann könnt ihr zusammen fahren.» Er riebsich die Hände und umfing Haslinger und Tron mit einem väterlichen Blick. Offenbar schien ihn die Aussicht auf Moosbruggers Aufzeichnungen in eine heitere Stimmung zu versetzen. «Lassen Sie sich einen Beförderungsschein für den Lloyd ausstellen, Commissario. Auf meinen Namen», fügte Spaur großzügig hinzu.
«Danke, Herr Baron.»
«Und noch etwas.» Spaur zog einen Bogen Papier aus der Schublade seines Schreibtisches und überflog es stirnrunzelnd. «Es wird in den nächsten Tagen eine Reihe von Razzien
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