Schnee in Venedig
was Elisabeth durch den Kopf schießt. Das Zweite ist ihr Passierschein, den sie vor zwei Stunden im Palazzo Reale selber unterschrieben hat. Das Dritte ist ein erstaunlich klares (ein geradezu schmerzhaft klares) Bild des bereits zusammengefalteten Passierscheins auf der Schreibplatte ihres Sekretärs. Da liegt der Passierschein immer noch, denn Elisabeth hat vergessen, ihn einzustecken.
32
Sergeant Semmelweis liebte Razzien, weil sie ihn an seinen Zivilberuf erinnerten.
Seine Gruppe, die aus drei Dutzend Männern, vier Unteroffizieren und zwei Leutnants bestand, war um Punkt neun Uhr ausgerückt. Dies war die zweite Gaststätte auf ihrem Einsatzplan, und bis jetzt lief alles wie am Schnürchen.
Sergeant Hackl, ein Kamerad aus Matrei in Osttirol, hatte wie üblich als Gondoliere verkleidet seine Ansage gemacht,und dann war ein Dutzend Soldaten in das Lokal gestürmt, während der Rest die Ausgänge besetzt hielt.
Sie hatten zwei englische Touristen und zwei Einheimische aussortiert, die sich nicht ausweisen konnten und die man jetzt zu einem provisorischen Sammelpunkt bringen würde, einem frei stehenden Backsteingebäude mitten auf dem großen Platz, an dem die Trattoria lag.
Jetzt stand er am vorletzten Tisch, der noch zu kontrollieren war, und hoffte, dass ihm der Gast hier keinen Ärger machen würde, obwohl es im Moment ganz danach aussah.
Der Bursche, ein etwa fünfzigjähriger Mann, hatte ihm mit arroganter Miene einen Passierschein des Palazzo Reale vor die Nase gehalten, der ihn als einen Grafen Königsegg, Oberhofmeister der Kaiserin, auswies. Sergeant Semmelweis fragte sich, für wie blöd ihn dieser Mann eigentlich hielt. Dass hier etwas faul war, sah er auf den ersten Blick.
Der Mann trug einen abgewetzten Gehrock, eine fleckige Weste, und Kragen und Manschetten sahen aus, als wären sie bereits ein paar Tage lang getragen worden. Er hatte ein rotes, aufgedunsenes Gesicht und schwitzte so stark, dass ihm der Schweiß in kleinen Tropfen von Stirn und Schläfen herablief. Außerdem hatte er einen in der Krone. Dafür sprachen schon die leere Weißweinflasche und die halb geleerte Flasche Grappa, die vor ihm auf dem Tisch standen.
Neben ihm saß eine Frau, Typ graue Maus, die nervös ihre Gabel befingerte. Den Fisch auf ihrem Teller hatte sie nicht angerührt, was Sergeant Semmelweis missbilligte, denn der Fisch (Seezunge?) sah ausgesprochen lecker aus.
Der Sergeant trat vorsichtshalber einen Schritt zurück, bevor er den Satz wiederholte, den er eben gesagt hatte. Der Bursche sah zwar nicht so aus, als würde er gleich mit dem Messer auf ihn losgehen, aber man konnte nie wissen.
«Stehen Sie auf und leeren Sie Ihre Taschen», sagte Sergeant Semmelweis zu dem Mann, der behauptet hatte, der Oberhofmeister der Kaiserin zu sein.
Er bemühte sich, denselben geduldigen Tonfall anzuschlagen, den er in einer solchen Situation auch im Zivilberuf benutzt hätte. Dann wartete er auf die Reaktion.
Sergeant Semmelweis teilte die Menschen, mit denen er im Zivilberuf zu tun hatte, in drei Gruppen ein: in Zerknirschte, Freche und Gewalttätige. Der Mann vor ihm, schätzte Sergeant Semmelweis (und er verschätzte sich selten), gehörte zu den Frechen. Die Frechen erfanden Geschichten oder verlangten, seinen Vorgesetzten zu sprechen.
Genau das tat der Bursche jetzt.
Er wechselte einen Blick mit der grauen Maus, die ihn durch ein Nicken ermutigte. Danach stärkte sich der Mann durch einen Schluck Grappa und sagte, wobei er sich Mühe gab, einen militärischen Tonfall nachzuahmen: «Ich will Ihren vorgesetzten Offizier sprechen.»
Sergeant Semmelweis lächelte. Für die Frechen hatte er ein einfaches Rezept parat, und das hieß: keine Diskussion.
Es war unnötig, den beiden Soldaten, die hinter den Mann getreten waren, einen Befehl zu geben. Sie wussten, was sie zu tun hatten, als der Sergeant mit dem Kinn auf den Aufmüpfigen deutete.
Sie traten von zwei Seiten an den Mann heran und zogen ihn wie eine Puppe von seinem Stuhl.
Natürlich zappelte der Bursche und schimpfte wie ein Rohrspatz – jedenfalls so lange, bis ein dritter Soldat den Revolver aus seiner Manteltasche zog – einen Trommelrevolver, so wie ihn Offiziere der kaiserlichen Armee benutzten. Der Revolver war geladen.
Sergeant Semmelweis nahm die Waffe. Er entfernte die Patronen aus der Trommel und legte sie auf den Tisch. EinenAugenblick lang hatte er den Eindruck, dass sämtliche Anwesenden auf den Revolver starrten, der jetzt neben der
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