Schnee in Venedig
Pergen im Stab des Stadtkommandanten gab. Sie verfasste noch am selben Tag einen Brief, den sie in der Kommandantur abgab. Sie schrieb, dass sie Unterlagen über den Prozess in Verona hätte, und schlug eine Zusammenkunft im
Café Florian
vor, am Donnerstagmorgen um kurz nach neun Uhr – da war das Café noch leer. Sie würde im maurischen Zimmer sitzen und die
Gazzetta di Venezia
lesen.
Emilia Farsetti war der einzige Gast, der sich Donnerstag früh mit einer
Gazzetta di Venezia
im maurischen Zimmer aufhielt, und Pergen, der von einem halben Dutzend kroatischer Jäger begleitet wurde, hatte keine Probleme, sie zu identifizieren. Sie brachten Emilia Farsetti sofort nach Hause. Die Durchsuchung der Wohnung dauerte drei Stunden, aber natürlich fanden sie nichts. Als sie Emilia Farsetti am späten Nachmittag auf der Isola di San Giorgio in eine Zelle schlossen, kannten sie die Adressen ihrer Mutter, ihrer beiden Brüder und die Namen ihrer besten Freundin. Pergen hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass deren Wohnungen ebenfalls durchsucht werden würden.
Emilia Farsetti stützte ihre Hände auf das Fensterbrettund sah, wie ihr Atem an der Scheibe kondensierte. Eine Möwe kreuzte ihr Blickfeld und verschwand im Dunst. Als die Soldaten sie gestern Vormittag in diese Zelle brachten, hatte sie im Inneren des Gebäudes die Orientierung verloren. Das Licht am Morgen kam von links, also musste vor ihr die südliche Lagune liegen und irgendwo hinter dem Dunst der Lido. Die Panikanfälle kamen jetzt immer öfter und dauerten länger. Noch vierundzwanzig Stunden, und sie würde dem Oberst das Versteck der Unterlagen verraten.
37
Inspektor Spadeni war ein kleiner, dicklicher Mann mit einer Vorliebe für schrill geblümte Westen und einer Abneigung gegen Priester und Soldaten. Seine Vorliebe für geblümte Westen (und seine Angewohnheit, selten einen Gehrock zu tragen) hatten seine Beförderung zum Commissario bisher verhindert. Seine Abneigung gegen Soldaten und Priester hatte zweimal zu einem Disziplinarverfahren geführt. Spadeni liebte französische Romane und langweilte sich leicht. Seitdem er Eugène Sues «Geheimnisse von Paris» verschlungen hatte, war ihm klar, dass Triest so ziemlich das Letzte war – tiefste Provinz und kriminalistisch völlig hinter dem Mond.
Als Tron Spadenis Büro betrat, saß der Inspektor hinter seinem Schreibtisch und machte drei Dinge gleichzeitig: Er schrieb, er aß und er rauchte. Mit der rechten Hand beschrieb er einen Bogen im Kanzleiformat, während die linke einen Hähnchenflügel zum Mund führte. Für die Zigarre brauchte er keine Hand, denn sie hing in seinemMundwinkel und wippte zu den Kaubewegungen seiner Kiefer. Spadeni war sicherlich der einzige Kriminalbeamte im Habsburgerreich, der es schaffte, mit einer brennenden Zigarre im Mund einen Hähnchenflügel zu verspeisen und gleichzeitig einen Bericht zu schreiben.
«Commissario Tron?»
Tron nickte und sah sich um.
Spadenis Büro war klein und lag im Erdgeschoss der Questura. Das einzige Fenster ging auf einen Lichtschacht hinaus. Außer dem Schreibtisch des Inspektors, seinem Sessel und einem Besucherstuhl enthielt der Raum zwei große Regale, auf denen sich Akten stapelten.
Neben dem Fenster hing das obligatorische Bild von Franz Joseph. Wenn sich der Grad der Opposition am Grad der Schiefheit der Kaiserporträts in den Amtsstuben bestimmen ließ, dachte Tron, gehörte Spadeni eindeutig zum militanten Flügel der Opposition: Das Bild des Kaisers hing nicht nur demonstrativ schief, es ging auch mitten durch das Gesicht des Kaisers ein Sprung im Glas.
«Spaur hat Sie bereits telegraphisch avisiert», sagte Spadeni, indem er Tron neugierig musterte.
Er kam mit erstaunlicher Beweglichkeit hinter seinem Schreibtisch hervor und zog einen Stuhl für Tron heran. Dann kehrte er an seinen Platz zurück und faltete den Bogen, den er beschrieben hatte, in der Mitte zusammen. «Sie sind wegen des Lloydfalls gekommen, nicht wahr? Spaur hat uns ein Telegramm geschickt.» In Spadenis Augen funkelte es lüstern.
«Es geht um einen Fall, der vielleicht mit dem Lloydfall zusammenhängt. Der Steward der
Erzherzog Sigmund
ist ermordet worden. Man hat ihm gestern in seiner Wohnung die Kehle durchgeschnitten.»
«Großer Gott!»
Unsichtbare Hände schienen Spadeni aus seinem Sessel zu ziehen, in dem er eben noch bunt wie ein Blumenstrauß gesessen hatte. Die Hähnchenkeule fiel ihm aus der Hand. Asche von der Spitze seiner Zigarre
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