Schnee in Venedig
hochgetürmten blonden Haaren, stieg schnaufend die Treppen des Hauses in der Via Bramante empor. Ihr marineblauer Mantel spannte sich über ihrem mächtigen Busen, und die solide gebauten Stufen erbebten unter ihrem Schritt.
Auf dem obersten Treppenabsatz fragte sie sich, ob sie das Wasser für die Pasta bereits jetzt aufsetzen sollte. Manchmal, wenn der Wind von Südwesten kam, schaffte die
Erzherzog Sigmund
die Passage in weniger als neun Stunden, und entsprechend früher klingelte es an ihrer Wohnungstür. Wenn das Wasser dann bereits kochte, könnten sie schneller essen und sich anschließend schneller ins Schlafzimmer begeben. Das mit dem Schlafzimmer war nicht das Entscheidende in ihrer Beziehung, aber manchmal gab es Tage, an denen sie morgens aufstand und an nichts anderes denken konnte.
Seit sechs Jahren, seit sie Witwe war, sahen sie sich zweimal in der Woche. Sie schätzte seine Verlässlichkeit und seinen peniblen Ordnungssinn, und vermutlich ging es ihm ebenso mit ihr. Dass sie ihn attraktiv fand und er sie auch, hatte dazu geführt, dass sie bei der Beerdigung ihres Gatten (er hatte im Triester Lloydbüro gearbeitet) ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte und er ihr ein paar Tage später einen Kondolenzbesuch abstattete. Aus einem Kondolenzbesuch war ein zweiter geworden und aus dem zweiten ein dritter. Der vierte Besuch ließ sich dann nicht mehr als Kondolenzbesuch bezeichnen, obwohl er sie mehr getröstet hatte als die drei ersten Besuche zusammen.
Er sprach nie über seine Arbeit, was vermutlich daran lag, dass er sie als belanglos empfand, und für sie gab es keinen Grund, sich danach zu erkundigen. Manchmal, fand sie, gingsein Sinn für Diskretion zu weit, beispielsweise wenn er sie ermahnte, zu niemandem über ihre Beziehung zu sprechen. Aber das mochte auch an seinen religiösen Gefühlen liegen, denn darüber, dass sie diese Wohnung zwei Tage in der Woche in Sünde teilten, konnte kein Zweifel bestehen.
In Sünde: Eigentlich hätte sie das Pater Anselmo, ihrem gut aussehenden Beichtvater von San Silvestro, der so schön über die Jungfrau Maria predigen konnte, beichten müssen, aber dann hätte er vermutlich von ihr verlangt, diese Verbindung zu lösen, und das wollte sie nicht. Signora Schmitz glaubte fest an Christus, den Erlöser, und an die Jungfräulichkeit seiner Empfängnis, aber sie glaubte nicht daran, dass es nötig war, alles zu beichten.
Als sie im obersten Stockwerk angekommen war, in dem ihre Wohnung lag, steckte sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn nach links. Der Schlüssel bewegte den Mechanismus mit der vertrauten Reihe von Klicklauten, dann ging die Tür auf. Es war alles so wie immer – bis auf eine Kleinigkeit. Diesmal war das Schloss bereits nach einer Umdrehung aufgesprungen. Das war merkwürdig, denn sie war sich sicher, dass sie, wie immer, zweimal abgeschlossen hatte. Wenn man davon ausging, dass kein Einbrecher in ihre Wohnung eingedrungen war – eine lachhafte Vorstellung –, konnte es nur bedeuten, dass er diesmal ungewöhnlich früh angekommen war und seinen eigenen Schlüssel benutzt hatte.
Signora Schmitz betrat ihre Diele und spürte, wie ihr Herz einen kleinen glücklichen Sprung machte. Natürlich war es albern, in ihrem Alter Gefühle zu haben, die besser zu einem Backfisch gepasst hätten, aber manchmal versetzte sie schon der bloße Gedanke an seine breiten Schultern und sein kühnes Medaillenprofil in Erregung.
Sie ging zwei, drei Schritte in den Flur, wobei sie sichbemühte, keine Eile zu zeigen. Vor dem Flurspiegel zog sie ihren Mantel aus und warf einen prüfenden Blick auf ihre Frisur, eine aufwendige, aber geschmackvolle Konstruktion aus hochgetürmten, blond gefärbten Haaren, die durch einen großen Pfeil aus Ebenholz zusammengehalten wurde. Ihre Nase schien leicht zu glänzen, also war es ratsam, ein wenig Puder aufzutragen und bei dieser Gelegenheit das Rouge auf ihren Wangen zu erneuern. Sie wusste, dass es Tage gab, an denen sie aussah, als wäre sie höchstens vierzig. Das waren die Tage, an denen sie gut geschlafen hatte, und heute Nacht hatte sie gut geschlafen.
Aus dem Wohnzimmer war noch immer kein Laut zu hören. Wahrscheinlich saß er erwartungsvoll auf dem Sofa, hatte ihr ein schönes Geschenk mitgebracht und freute sich darauf, sie zu überraschen. Sie stieß ein leises, glucksendes Lachen aus. Selbstverständlich würde sie sich überrascht zeigen. Es gab keinen Grund, ihm diese kleine Freude zu
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