Schnee in Venedig
verderben.
Signora Schmitz warf einen letzten Blick in den Spiegel, und ihr Bild erfüllte sie mit Befriedigung. Dann wandte sie sich nach links, öffnete die Tür am Ende des Flurs und betrat ihr Wohnzimmer.
Sie musste keine Überraschung heucheln. Was jetzt mit ihr geschah, überraschte sie tatsächlich. Es war die größte und die letzte Überraschung ihres Lebens.
Der Mann, der in ihrem Wohnzimmer neben ihrem runden Mahagonitisch mit der Häkeldecke stand, war hoch gewachsen und schlank. Er hatte gut geschnittene, wenn auch etwas strenge Gesichtszüge und trug einen bis zum Kragen geschlossenen schwarzen Mantel.
Signora Schmitz brauchte eine halbe Sekunde, um den Mann zu mustern; in der zweiten Hälfte der Sekunde begannen die Alarmglocken in ihrem Schädel zu schrillen, solaut wie noch nie in ihrem Leben. Sie schaffte es noch, sich umzudrehen und einen Fuß in den Flur zu setzen, aber es nützte ihr nichts.
Eine Hand, die in einem schwarzen Lederhandschuh steckte, schoss, schnell wie eine zuschnappende Schildkröte, auf ihren Arm zu und riss sie nach hinten. Signora Schmitz verlor das Gleichgewicht, flog nach hinten und prallte mit der rechten Seite ihres Gesichts gegen die Türklinke. Zwei Vorderzähne brachen dicht über dem Zahnfleisch ab und zerschnitten ihren Mund. Sie sackte halb bewusstlos zusammen. Der Mann mit dem gut geschnittenen Gesicht packte sie an den Haaren und zog sie ins Zimmer. Er schlug die Flurtür zu, und als Signora Schmitz versuchte zu schreien, traf sein Stiefel ihren Kopf und riss ihre linke, sorgfältig zurechtgezupfte Augenbraue auf. Der Tritt schleuderte ihren Hinterkopf auf den Fußboden und verwandelte ihren Schrei in ein dumpfes Röcheln. Signora Schmitz biss sich den unteren Teil ihrer Zunge ab, aber zu diesem Zeitpunkt registrierte sie bereits nicht mehr, was mit ihr geschah. Blut schoss aus ihrem Mund über ihr Kinn, ergoss sich aus der linken Augenbraue über das Rouge ihrer Wangen und lief auf ihren Hals herab.
Der Mann richtete sich auf. Sein Puls hatte sich durch die Anstrengung auf über hundert erhöht, normalisierte sich aber rasch.
Er griff in die Tasche, zog ein Rasiermesser hervor und klappte es auf. Dann drehte er die Klinge hin und her und ließ das Winterlicht, das durch die Vorhänge sickerte, auf ihr entlanglaufen wie Wasser. Heute Morgen hatte er sich besonders sorgfältig rasiert und anschließend sein Messer nach allen Regeln der Kunst geschärft. Dazu hatte er feinstes Bimssteinpulver benutzt und die Klinge eine halbe Stunde lang auf einem Riemen aus Pferdeleder abgezogen. Jetztsehnte sich die Klinge danach zu schneiden, und er würde ihren Wunsch erfüllen.
Die Frau zu seinen Füßen war bewusstlos, aber nicht tot. Ihre Lungen saugten noch immer rasselnd Luft an, und ihr ansehnlicher Busen hob und senkte sich. Ein Vers von Keats fiel ihm ein, ein Vers aus einem Sonett, in dem der englische Dichter über die Verflochtenheit von Liebe und Tod meditierte.
Still, still to hear her tender taken breath …
Seine Augen füllten sich mit Tränen.
Einen schwachen Augenblick lang überkam ihn die Lust, die Frau zu fesseln und sie sich vorzunehmen – er hasste es zu töten, ohne vorher ein bisschen Spaß gehabt zu haben –, aber das hätte sie womöglich aus ihrer Bewusstlosigkeit geweckt, und es hätte Geschrei gegeben.
Also bog er ihren Kopf zurück, bis ihr Mund aufklappte, und schnitt ihr die Kehle durch.
Dann wischte er das Rasiermesser sorgfältig am Tischtuch ab, klappte es zusammen und steckte es wieder in die Tasche. Anschließend ging er in die Knie und schloss der Toten die Augen.
«And so live ever»,
sagte er sanft.
Fast hätte er sich den linken Ärmel dabei schmutzig gemacht, denn ihre Halsschlagader pumpte noch immer warmes Blut auf den Teppich, aber ihr die Augen nicht zu schließen wäre unchristlich gewesen.
Dann begab er sich zurück in das Zimmer mit dem großen Militärsekretär und setzte die Suche, bei der er unterbrochen worden war, fort. Seine Repetieruhr sagte ihm, dass er sich beeilen musste, aber er wusste auch, dass er den Zweck dieses Besuches gefährden würde, wenn er hastig und unkonzentriert vorging.
Zehn Minuten später hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte: ein kleines, ledergebundenes Büchlein, in dasmit sorgfältiger Schrift Namen, Daten und Beträge in allen möglichen Währungen eingetragen waren. Die Aufzeichnungen begannen im Januar 1860 und endeten am 13. Februar 1862.
Er steckte das Buch ein
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