Schnee in Venedig
krümelte auf seinen Teller. Es war schwer zu entscheiden, ob der Ausdruck auf seinem Gesicht Neid oder Entsetzen bedeutete.
«Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen diesem Mord und Moosbruggers Nebengeschäften?», fragte Spadeni. Offenbar wusste er, was auf dem Dampfer vor sich gegangen war.
«Vermutlich ist Moosbrugger von einem seiner Kunden ermordet worden», sagte Tron. «Vielleicht von dem Mann, der vor vierzehn Tagen das Mädchen getötet hat.»
«Der ist doch gefasst worden.»
«Ich befürchte, man hat den Falschen erwischt.»
«Und was kann ich für Sie tun?», fragte Spadeni begierig.
«Moosbrugger hat hier mit einer gewissen Signora Schmitz zusammengelebt. In der Via Bramante. Er hat Aufzeichnungen über seine Kunden gemacht. Es kann sein, dass sich diese Aufzeichnungen in der Wohnung befinden.»
«Und jetzt möchten Sie, dass wir uns in die Via Bramante begeben und uns dort umsehen?»
Tron schüttelte den Kopf. «Nicht wir, sondern Sie. Ich will, dass Sie sich in die Via Bramante begeben und ein bisschen suchen. Ich bin als Privatmann in Triest. Mir ist der Fall entzogen worden.»
«Aber Sie kommen mit?»
«Selbstverständlich. Aber nicht als Kollege.»
Spadeni schien plötzlich etwas eingefallen zu sein. Tron konnte förmlich sehen, wie sein Verstand über etwas stolperte. «Dieses Mädchen, Commissario – wie ist es getötet worden?»
«Sie ist erwürgt worden», sagte Tron.
«Erwürgt?» Spadeni ließ seinen Blick auf Tron ruhen, während er nachdachte. «Und vorher gefesselt und misshandelt? Mit Bissen am Oberkörper?»
«Woher wissen Sie das?»
«Ich weiß überhaupt nichts. Es hat nur im Sommer einen ähnlichen Fall in Wien gegeben.»
«Meinen Sie den Mord am Gloggnitzer Bahnhof?»
Spadeni nickte. «Wir wurden benachrichtigt, weil der Täter anschließend nach Triest gefahren sein könnte.» Er stand auf und durchwühlte verschiedene Aktenstapel in einem Wandregal. Schließlich hatte er gefunden, was er suchte.
Tron nahm die Akte zur Hand. Auf dem Deckel stand in großen Buchstaben: Josepha Gschwend, 12/08/61, offenbar das Datum der Tat, dahinter Wien, Gloggnitzer Bhf und das Kürzel des ermittelnden Beamten. Die Akte bestand aus sieben in enger Kanzleischrift beschriebenen Bögen, zuzüglich einer Verteilerliste.
Josepha Gschwend, 28 Jahre alt und gebürtig aus Neuenburg an der Donau, war am 12. August 61 im
Hotel Ferdinand
ermordet worden. Der Täter hatte sein Opfer gefesselt, misshandelt (es folgten Einzelheiten aus dem Obduktionsbericht) und anschließend erwürgt. Niemand, weder der Nachtportier des Hotels noch eine Gruppe von Unteroffizieren (Kärntner Gebirgsjäger), die auf der gleichen Etage einquartiert gewesen waren, konnte sich an etwas Verdächtiges erinnern. Einen Priester, der ebenfalls auf der Etage übernachtet hatte, hatte man noch nicht ausfindig gemacht. Das mit dem Priester, dachte Tron, war interessant. Sehr interessant.
Offenbar waren Spadeni ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen, denn er fragte: «Gab es einen Priester auf der
Erzherzog Sigmund
?»
«Pater Tommaseo von San Trovaso», sagte Tron.
«Haben Sie ihn vernommen?»
Tron schüttelte den Kopf. «Ich habe ihn erst kennen gelernt, als der Fall offiziell bereits abgeschlossen war.»
«Was ist er für ein Mensch?»
«Er hat gestern auf dem Schiff aus seiner Befriedigung über den Tod Moosbruggers kein Hehl gemacht», sagte Tron.
«Gestern auf dem Schiff?» Spadeni beugte sich über seinen Schreibtisch. «Wollen Sie damit sagen, dass dieser Tommaseo in Triest ist? Jetzt, in diesem Augenblick?»
Tron zuckte mit den Achseln. «Das weiß ich nicht. Vielleicht ist er auch nach Wien weitergereist», sagte er.
Spadeni war aufgestanden. Er umrundete seinen Schreibtisch und zog einen hellbraunen Gehrock über seine geblümte Weste. Dabei strahlte er über das ganze Gesicht und rieb sich aufgeregt die Hände. Plötzlich hatte er einen Revolver in der Hand. «Wir sollten keine Zeit verlieren, Commissario.»
«Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.»
«Können Sie ausschließen, dass Pater Tommaseo nicht ebenfalls von dieser Adresse weiß? Und dass er nicht auf den gleichen Gedanken gekommen ist wie Sie?»
«Nein, aber …»
«Sehen Sie! Wenn wir zu spät kommen, finden wir womöglich eine neue Leiche, und die Aufzeichnungen Moosbruggers sind verschwunden.» Spadenis Gesicht leuchtete wie ein Weihnachtsbaum. «Worauf warten wir noch?»
38
Signora Schmitz, groß, massig und mit
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