Schneeflockenbaum (epub)
flinken Füße mühelos spielten, war überraschend fröhlich, aber dennoch erhaben, weihevoll und trotzdem funkelnd. Während des langen Gebets des Pastors notierte ich mir rasch die Melodie, denn ein solcher Einfall ist meist ebenso schnell verflogen, wie er gekommen ist.
Als der Gottesdienst zu Ende war und alle die Kirche verließen, spielte ich das Thema erneut. Unglaublich, dass mir dies eingefallen war! Nun ja, Schubert fiel dergleichen oft mehrmals am Tag ein, während mir so etwas wahrscheinlich nur einmal im Leben passierte. Dennoch war ich stolz auf mich, und mein Stolz wuchs noch weiter, als George während des großen Hochzeitsfests im Hotel Delta auf mich zukam und sagte: »Was hast du bei der Kollekte gespielt? Von wem war das? Phantastische Musik.« Ich brachte es nicht über mich zuzugeben, dass es eine Improvisation von mir war. Daher log ich: »Ja, schön, nicht? Das war ein Stück des tschechischen Komponisten Fibich.«
»Fibich? Nie gehört. Gibt es das auf Schallplatte?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Schade, ich würde es so gern noch einmal hören.«
»Ich könnte es auf der Stelle für dich spielen.«
»Leider gibt es hier keine Orgel.«
»Vielleicht aber irgendwo einen Flügel.«
In einem leeren Saal fanden wir einen Steinway. Und erneut spielte ich meinen Einfall, meinen Fund, mein Stück, meinen »aus tiefer Not« emporgestiegenen, fröhlichen Herzensruf, und George meinte begeistert: »Auch auf dem Klavier klingt es herrlich.«
Ich sagte: »Danach kommt noch eine Fuge. Willst du die auch hören?«
»Gern.«
Und so spielte ich meine Julia-Fuge und war erstaunt, dass mein Einfall und meine Fuge unüberhörbar miteinander verwandt waren. Komponist müsste man sein, dachte ich, das ist ganz zweifellos das Höchste, was man im Leben erreichen kann. Schreiben kann jeder, und Zeichnen geht den meisten Menschen auch recht gut von der Hand, doch schon die Komposition eines einfachen Menuetts erfordert große Fertigkeit. Mozart, Bach, Schubert, Beethoven und Haydn waren doch ganz gewiss »von den Schultern an aufwärts größer als alle Schriftsteller, Maler und Wissenschaftler vor und nach ihnen«. Selbst Shakespeare, Leonardo da Vinci, Goethe und Rembrandt reichen an sie nicht heran.
Begegnung
S chließlich geschah, was natürlich unausweichlich war. An einem Winterabend Mitte Dezember waren Katja und ich, nachdem ich sie in der Musikschule abgeholt hatte, auf dem Heimweg. Es fiel leichter Pulverschnee. Die Flöckchen waren winzig, aber sie schmolzen nicht. Der Rapenburg war bereits weiß ausstaffiert. Auch das Kopfsteinpflaster im Kloksteeg war gepudert. Es schien, als könnte im blassroten Abendlicht jeden Moment der Walzer der Zuckerfee erklingen. Als wir die Bebauung auf der linken Seite hinter uns gelassen hatten und der große Pieterskerkhof in seinem märchenhaften weißen Glanz vor uns auftauchte, kam quer über den Platz jemand auf uns zugeschliddert.
»Weitergehen«, forderte ich Katja auf.
»Schieb mich nicht so«, sagte sie, »hier ist es glatt. Ich habe keine Lust, mich auf die Nase zu legen.«
Sie trug ihren langen Mantel. Auf dem Kragen glitzerte Schnee. Auch die Revers waren mit einer weißen Schicht bedeckt. Es war, als sähe ich sie zum ersten Mal und als würde ich mich auf der Stelle, »out of the blue«, wegen des Mantels und der dünnen Schneeschicht in sie verlieben. Der Mann, der über den Pieterskerkhof angerutscht kam, hatte solche Mühe, auf den Beinen zu bleiben, dass er es für unter seiner Würde hielt, auf seinen Weg zu achten. Die Folge war, dass Katja beinahe mit ihm zusammenstieß.
»Pass doch auf«, sagte sie entrüstet, den Zusammenstoß antizipierend, der nicht stattfand.
Erstaunt schaute der Rutscher auf, vermutlich denkend: Was für eine Panikmacherin. Das dachte ich jedenfalls, packte ihre Hand und zog sie weiter.
»Lass das«, sagte sie.
Der Rutscher blieb stehen, sah Katja an, sah mich an, richtete sich auf und sagte: »Nein, so was, endlich mal!« Woraufhin er Katja erfreut die Hand entgegenstreckte.
Sie zuckte zurück.
»Ich bin Jouri«, sagte er.
»Das ist Jouri«, sagte ich.
Die Hand noch immer ausgestreckt, musterte Jouri freimütig die junge Frau, die vor ihm zurückgewichen war.
»Deine bessere Hälfte hat dich die ganze Zeit vor mir versteckt, er hat dich von mir ferngehalten und hat mir nicht einmal ein Foto von dir gezeigt. Jetzt allerdings hat die Stunde der Wahrheit geschlagen. Und ich habe die ganze Zeit gedacht, du
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